Praxis für Psychotherapie Dr. Phil. Arnim Krüger




The German Angst als Selbstdemontage von "Aufstehen"

- Eine teilnehmende Beobachtung -

Herbst 2018. Ich bin es leid, immer wieder nur lamentierend zu konstatieren, welche "Erfolge" der neoliberale Elitenkapitalismus wieder gegen uns errungen hat. Mich regt weniger das Erstarken der AfD auf, sondern die eklatante Schwäche und Spaltung der Linken, die nun schon 100 Jahre währt. Die Partei "Die Linke" geriert sich, sich als parteipolitische Elite zu etablieren. Einmal in der "Regierungsverantwortung" in einem Bundesland - macht sie jeden Scheiß mit, den der Turbokapitalismus vorgibt (so wurden im Land Brandenburg wegen des ungebremsten Braunkohleabbaus weiter Landschaftszerstörung und Vertreibung der Bewohner betrieben). Die SPD ist seit Schröder und der Agenda 2010 zum Vorreiter neoliberaler Ungerechtigkeit geworden. Bei Bündnis 90 / Die Grünen kann man die "Restlinken" mit der Lupe suchen. Die Partei ist in der Bürgerlichkeit angekommen und kann aus dieser bequemen Perspektive heraus nichts weniger fordern als die ökologische (Er-) Rettung der Welt.

Da ertönt aus Berlin der Aufruf zu(m) "Aufstehen". Sahra Wagenknecht ("Die Linke") initiiert mit einigen Getreuen und UnterstützerInnen eine linke Sammlungsbewegung. Ich bin dabei. Ich werde Gründungsmitglied von "Aufstehen" in meinem Landkreis. Vergessen (?) sind meine Ressentiments gegenüber der Partei "Die Linke". Hatte mich doch die Vorgängerpartei SED einst 1984 wegen "bürgerlich pazifistischer Grundhaltung" ausgeschlossen, was damals gleichzeitig mit einem dreijährigen Berufsverbot in der DDR einherging. Auf dieser Gründungsveranstaltung sind nun ca. 60 % der TeilnehmerInnen von jener Partei; ein ehemaliges SPD-Mitglied, der gerade aus seiner Partei ausgetreten ist; der Rest - parteilos (wie sich später herausstellt, vor allem ehemalige SED-GenossInnen). Der Altersdurchschnitt der "Aufstehenden" beträgt ca. 60 Jahre (+/- 10).

Erste Phase: Auf der Suche nach Inhalten oder die Top-down-Kampagne funktioniert nicht

Unsere Treffen sind anfangs gut besucht, oft bis zu 25 TeilnehmerInnen aus unserem Landkreis. Die weltanschauliche Bandbreite reicht von Grundgesetzverteidigern ("Man müsste nur das durchsetzen, was im Grundgesetz der BRD verankert ist".), über Friedensaktivisten bis hin zu "Weltrevolutionären", die sich selbst so vorstellen ("Ohne einen grundlegenden Systemwechsel geht gar nichts!".). Selbst ein ehemaliger "hoher Genosse" des FDJ-Zentralrats der DDR erscheint in unserer Runde. Es wird offen und vehement diskutiert, was "Aufstehen" verkörpern soll. Die GenossInnen der "Linken" versuchen, richtungsweisend zu wirken: "Sahra hat gesagt …", "Sahra hat gemeint …"

Aber, es gibt nicht wirklich Richtungsvorgaben "von oben", "Top-down" funktioniert nicht. Die "Vorgaben" aus Berlin sind verschwiemelt: "Man müsse in die anderen Parteien aus einer linken Position heraus einwirken …". "Aufstehen" als "fünfte Kolonne", die jetzt mal das tut, was "SPD", "Grüne" und "Linke" verschlafen? Es erscheint ein "Leitfaden" für Aufstehen-Treffen, darin, man wolle "keine stundenlangen Fachdebatten". Ich werfe mich natürlich auch in die Diskussion um die Sinnsuche für "Aufstehen". Hier ein exemplarischer Dialog (?). Eine "Linke"-Genossin: "Wir sind hier, um einen Auftrag zu erfüllen! Wir müssen die Jugend erreichen und politisch mitnehmen!". Ich: "Ich erfülle von niemandem einen Auftrag. Ich bin hier um mitzuwirken, die Spaltung der Linken zu verstehen und langfristig zu überwinden. Es geht um die Suche nach einer linken Position, die verbindet". Sie: "Dann bist Du hier wohl fehl am Platz und solltest besser gehen".

Zweite Phase: In der Dynamik von Aktionismus versus Reflexion obsiegt der Aktionismus

Die erhofften Vorgaben aus "Berlin" bleiben aus. Ein ominöser "Trägerverein" in Berlin sondert undurchsichtige Botschaften ab. Der Handlungsdruck an der "Basis" nimmt zu. Man entschließt sich zu den hinlänglich bekannten Agitprop-Maßnahmen: Vorbereitung und Organisation eines Standes zum 1. Mai, Teilnahme an einer AfD-Gegendemo u. ä.

Ich teile Sahra Wagenknecht im Dezember 2018 meine Bedenken mit:

Liebe Sahra Wagenknecht,

ich bin Mitglied der Aufstehen-Gruppe des Landkreises …, so also auch von dem ersten Schwung der Gründung und den ersten Nachwehen gezeichnet.
In der Psychotherapie gibt es den guten Dreischritt "Fühlen - Denken - Handeln". Wird bereits ein Schritt dieser drei vernachlässigt oder vereinseitigt, gerät unser seelischer Apparat in die Schieflage. Die dann entstehenden Pole sind wohlbekannt: "Gefühlsduselei" auf der einen Seite, "Aktionismus" auf der anderen Seite und die "Oberschlauies" (Denken) können dann weder das eine noch das andere verhindern. Ich kann mich leider nicht des Eindrucks erwehren, daß z. Zt. der Pol des Aktionismus stark befeuert wird. Ist vielleicht in einer Gründungphase auch normal, leider. Auf der Gefühlsebene hat dann höchstens eine gewisse Euphorie das Sagen. Und das Nachdenken wird deklassiert, daß man keine "stundenlangen Fachdebatten" wolle, so der "Leitfaden" für Aufstehen-Treffen.

Ohne kritisches Nachdenken - keine gute kritische Aktion!
. . .

Mit aufstehenden Grüßen


Dritte Phase: Scheinbare Konsolidierung über Sachthemen und das Kippen in eine Bottom-up-Bewegung ("Graswurzelbewegung")

Die Agitprop-Aktionen lassen die Attraktivität von "Aufstehen" in unserem Landkreis nicht wachsen. Die ausbleibende Verständigung über "Was ist eigentlich links?" dezimiert den TeilnehmerInnenkreis erheblich. Es bleiben vielleicht 10 ernsthaft Interessierte übrig, die dann bald erkennen, daß diese Frage "Was ist links?" über konkrete Themen erarbeitet werden muß. Es gründen sich 2 Arbeitsgruppen, zum einen "Umwelt", zum anderen "Pflege". Ich gehöre der AG Pflege an. In unserer AG Pflege versuchen wir den Spagat zwischen der Analyse konkreter Pflegeproblematik in unserem Landkreis und der Verortung allgemeiner linker Fragestellungen dabei. Und - wir werden fündig und kommen zu Ergebnissen. Pflege hat sich auch in unserem Landkreis zum "Eigentum" von Pflegekartellen entwickelt. Pflege ist deshalb von den Betroffenen, den Angehörigen und dem Pflegepersonal entfremdet worden. Pflege wird zur Erwirtschaftung von enormem Profit mißbraucht. Dieser Profit kommt weder den Pflegebedürftigen, noch dem Personal zu Gute. Ganz im Gegenteil werden die steigenden Pflegekosten den Pflegebedürftigen und deren Familien aufgebürdet.

Wir setzen uns auch mit alternativen, linken Modellen der Pflege auseinander. Unter welchen Bedingungen ist Pflege in Würde möglich? Wie stärken wir bürgerschaftliches Engagement? Wie fördern wir regionale, familienahe oder genossenschaftliche Strukturen in der Pflege? Wie verhindern wir Pflege als Form der Gewinnmaximierung?

Das heißt, eine kleine sechsköpfige Gruppe, die sich über den linken Umgang mit einem Sachthema definiert, der es relativ egal ist, ob sie irgendwie "Aufstehen"-konform agiert, bohrt sich in die Pflegepolitik ihres Landkreises. Die kopflastige "Sturzgeburt" von "Aufstehen" über InitiatorInnen ("Top-down") ändert ihre politische Wirkrichtung um 180 Grad in eine Graswurzelbewegung ("Bottom-up").

Vierte Phase: Das Unwissen, die Unfähigkeit, die mangelnde Erfahrung, die Angst eine Graswurzelbewegung zu sein und das Obsiegen angstbannender Strukturfetischisten

Bei unserem ersten öffentlichen Diskussionsforum luden wir InteressentInnen über unsere sechs Namen ein. Wir übernahmen also persönlich die Verantwortung für diese Veranstaltung. Der Name "Aufstehen" fungierte nur als Hintergrund für unser Tun. An dieser Stelle meldeten sich die ersten Bedenkenträger aus unserer Landkreisgruppe. Was ist mit den Haftungspflichten auf einer solchen Veranstaltung? Wenn sich jemand ein Bein bricht? Wenn ein Feuer entsteht? Wenn es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit den Rechten kommt, das Inventar demoliert wird? Wenn jemand im Namen von "Aufstehen" Hakenkreuz-Schmierereien macht? Es brechen sich die vielfältigsten Bedrohungsphantasien Bahn, denen man ungeschützt und ungesichert ausgeliefert sein könnte.

Auf Landesebene sind solchen Bedenken längst Taten gefolgt. Eine Initiativgruppe arbeitete an seitenlangen Statutsentwürfen für einen "Trägerverein" zum einen und einen "Förderverein" zum anderen. Die Unterscheidung zwischen beiden ist undurchsichtig, man erhoffe sich durch diese Vereine die rechtliche Absicherung von "Aufstehen". Diese Initiativgruppe schafft es, den Gedanken der Gründung von Vereinen in die 11 schon existierenden Landkreisgruppen des Landes zu tragen. Dort wird er begierig aufgenommen.

An dieser Stelle passiert ein neuer Richtungswechsel. Die eben gerade begonnene Sachthemenarbeit, die offensichtlich eher als Graswurzelbewegung funktioniert, wird überformt von einer formalistischen Diskussion über Vereinsgründungen. Die Form obsiegt über den Inhalt, statt daß sich aus der inhaltlichen Arbeit heraus die formgebenden Strukturen entwickeln können. Hier passiert eindeutig ein Rückschritt oder wenn ich es ideologischer ausdrücke, es ist reaktionär. Ich fühle mich an die zynische Geschichtslektion erinnert: Deutschland ist das Land der halben Revolutionen, aber immer danach - einer ganzen Restauration.

Was ist passiert? Man stelle sich mal vor, "Extinction Rebellion" gründet erst einen Verein und in seine Satzung schreibt er die Ziele und Aktivitätsabsichten hinein und wartet, daß diese Satzung von einem Amtsgericht genehmigt wird. Oder Carola Rackete bittet die italienische Regierung, ihre Zustimmung für die Aufnahme von Mittelmeer-Flüchtlingen zu geben. Bliebe diese Zustimmung aus, würde sie natürlich keine Flüchtlinge an Bord nehmen. Und wenn man einen Systemwechsel in den daseinsvorsorgenden Lebensbereichen (Wohnen, Gesundheit, Verkehr, Pflege, Gas, Wasser, Strom etc.) anstrebt, sich erst das Plazet vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe holt. Ja, es wäre irrwitzig oder vornehmer formuliert: eine contradictio in adiecto.

Es ist eine psychologische Binsenweisheit, der Ruf nach Sicherheit erschallt immer dann, wenn es um Angst geht. Diese Angst ist nicht einfach eine "Furcht vor …", sondern eine die Existenz bedrohende Angst. In dieser Angst vereinen sich zwei Komponenten. Es ist erstens die frühe individuelle Angst (oft eher unbewußt): Habe ich das Recht bekommen, auf dieser Welt zu sein? Und es ist zweitens eine als extrem machtvoll erlebte soziale Bedrohung. Die "strukturelle Gewalt" (M. Foucault) des Staates und seiner zu ihm gehörigen Eliten wird als übermächtig erlebt, die existenzzerstörerisch daherkommen kann. Wer hätte gedacht, daß Sklavenarbeit in unserer ach so modernen Zivilgesellschaft wieder eingeführt wird - es nennt sich jetzt nur "Zeitarbeit". Wer hätte gedacht, wie umfassend man einem Menschen die Würde nehmen kann - es nennt sich jetzt "Hartz IV". Diese beiden Komponenten der Angst bekommen in Deutschland eine spezifische Färbung - "The German Angst". Es ist das Erleben zweier Weltkriege, es ist das Erleben zweier Diktaturen, es ist die unfassbare Gewissheit, daß Deutsche das Töten von Menschen industriell perfektioniert haben - in diesem historischen Sumpf sind wir mit unserer Angst verstrickt.

Diese "German Angst" hat eine weitere, spezifisch deutsche Facette, ich nenne sie kleinbürgerliches Zaudern und Inkonsequenz. Erich Mühsam hat das punktgenau beschrieben:

Der Revoluzzer
(Der deutschen Sozialdemokratie gewidmet)

War einmal ein Revoluzzer,
im Zivilstand Lampenputzer;
ging im Revoluzzerschritt
mit den Revoluzzern mit.

Und er schrie: "Ich revolüzze!"
Und die Revoluzzermütze
schob er auf das linke Ohr,
kam sich höchst gefährlich vor.

Doch die Revoluzzer schritten
mitten in der Straßen Mitten,
wo er sonsten unverdrutzt
alle Gaslaternen putzt.

Sie vom Boden zu entfernen,
rupfte man die Gaslaternen
aus dem Straßenpflaster aus,
zwecks des Barrikadenbaus.

Aber unser Revoluzzer
schrie: "Ich bin der Lampenputzer
dieses guten Leuchtelichts.
Bitte, bitte, tut ihm nichts!

Wenn wir ihn' das Licht ausdrehen,
kann kein Bürger nichts mehr sehen.
Laßt die Lampen stehn, ich bitt! ­
Denn sonst spiel ich nicht mehr mit!"

Doch die Revoluzzer lachten,
und die Gaslaternen krachten,
und der Lampenputzer schlich
fort und weinte bitterlich.

Dann ist er zu Haus geblieben
und hat dort ein Buch geschrieben:
nämlich, wie man revoluzzt
und dabei doch Lampen putzt.

Deshalb gibt es bei uns auch keine Gelbwesten wie in Frankreich und keine Demonstranten wie in Hongkong. Unser deutscher "Aufstehen"-Revoluzzer geht nach Hause und schreibt an einer Vereinssatzung. Die Bildung eines Vereins bzw. von Vereinen innerhalb der "Aufstehen"-Bewegung ist nichts anderes als ein kollektiver neurotischer Abwehrreflex dieser "German Angst". Man sucht die traute "Sicherheit" eines Vereins (manche "Aufstehenden" träumen sogar von einer Parteigründung) und hat damit sofort das kreative, emanzipatorische, bürgerschaftliche, kämpferische Engagement der "Einzelnen in Verbundenheit gegen und für etwas" im Keim erstickt.

Was wäre die Alternative gewesen? Die Alternative wäre gewesen diese "German Angst" auszuhalten. In der Psychotherapie nennen wir das auch "containen". Gemeinschaftliches Containen ist sogar emotional höchstwirksam ("Geteiltes Leid ist halbes Leid".). Dazu braucht es keinen hierarchisch strukturierten Verein, sondern die Verbundenheit untereinander in Face-to-face-Beziehungen (man kennt sich, man vertraut sich). Dies kann eine Graswurzelbewegung leisten.

Aber, es gibt noch einen wunden Punkt. Können wir Graswurzelarbeit? Haben wir damit Erfahrungen und so damit entwickelte Fähigkeiten? Die Erfahrungen aus meiner "Aufstehen"-Zeit besagen: Wir können es nicht, weil wir es nicht gelernt haben. Die guten Erfahrungen der "Wende-Zeit" mit ihren "Runden Tischen" haben über die letzten 30 Jahre nicht wirklich getragen. In einer Graswurzelbewegung wäre konsens- und basisdemokratisch zu arbeiten. Was ist ein Konsens? Wann ist er erreicht? Wie lange darf / muß diskutiert werden, bis es einen tragenden Konsens gibt? Die Veranstaltungen auf Landes- und Landkreisebene von "Aufstehen", bei denen ich dabei war, mutierten alle zu reinen, einfachen Mehrheitsentscheidungen, schließlich nur noch über Handzeichen. Es wurde nichts mehr wirklich ausdiskutiert. Ich habe auf zwei langandauernden Veranstaltungen versucht, für die Notwendigkeit der Graswurzelarbeit bei "Aufstehen" zu argumentieren. Per einfachen Mehrheitsbeschluss bin ich dann von den Befürwortern der Vereinsgründungen überstimmt worden.

Ja, dann ist der "Revoluzzer-Autor" nach Hause gegangen und hat diesen Artikel über "Aufstehen" geschrieben … Die "Vereinsmeierei" hatte nichts mehr mit meinem Anliegen zu tun, warum ich vor über einem Jahr zu "Aufstehen" gegangen bin.

Dr. Arnim H. Krüger

 
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