Praxis für Psychotherapie Dr. Phil. Arnim Krüger




Identität im Spannungsfeld von "Höher, weiter, schneller" und dem Lebenkönnen von Angst, Lust und Wut

- Psychotherapeutische Aspekte -

Als ich begann, mir Gedanken zu machen, zu dem Inhalt des Artikels, befand ich mich gerade im Winterurlaub in den österreichischen Alpen. Ich war dort mit meiner siebenjährigen Tochter, die sonst die restlichen Tage des Jahres von mir getrennt bei ihrer Mutter und ihrem neuen sozialen Vater lebt. meine Tochter als siebenjähriges Mädchen und ich als neununddreißigjähriger Mann sahen die Alpen zum ersten Mal.

Zur Vorbereitung meines Artikels hatte ich u. a. Rudolf Bahros neues Buch mit: "Logik der Rettung: wer kann die Apokalypse aufhalten?; Ein Versuch über die Grundlagen ökologischer Politik" [1]. Mein Vorsatz war, immer, wenn ich meine Tochter mit einem Märchen der Gebrüder Grimm eingeschlummert hatte, dann wollte ich Bahro studieren. Irgendein Widerstand ließ mich jedoch von 497 studierbaren Seiten nur 72 lesen.

Merkwürdigerweise scheint auf der Seite 72 auch schon die Grundwahrheit über unsere heutige Zeit zu stehen. Bahro zitiert hier die Japanerin Ryoju Tamo, die folgendes Gleichnis beschreibt:

"Stellen Sie sich vor, daß Milliarden von Ameisen in einem Schiffchen aus einem Bambusblatt auf einen Wasserfall zutreiben - ohne es auch nur zu bemerken. Es scheint, sie wissen sogar nicht einmal, daß sie in einem Schiffchen fahren. Diese, die zusammenwirken müßten - hätten sie ihre Lage erkannt - , stehen sich im Gegenteil in Haß, Tücke und Habgier gegenüber, sind besessen von Intrigen und Streitigkeiten. Obwohl es doch für alle - ob Freund oder Feind - den Untergang bedeutet, sobald das Schiffchen den Wasserfall erreicht und hinunterstürzt ...".

In einer Ameisenkolonie befanden wir uns in den österreichischen Alpen vielleicht nicht, aber es hatte schon etwas von einer Schafsherde, in die wir uns als zwei "Schafe" mehr ungeduldig als geduldig jeden Morgen und jeden Abend einreihten, wenn wir mit dem Lift den Berg hinauf- oder hinunterfahren wollten. Das diese Lifts und die langen und großen Skihänge die Alpenlandschaft zerstören, wußte ich aus dem Fernsehen. Das Skifahren auf diesen Pisten zog ich jedenfalls dem Studium von Bahros "Logik der Rettung" vor.

1977, als Bahros Buch "Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus" [2] erschien, hatte ich mich noch ganz anders verhalten. Heimlich und unter großem konspirativen Aufwand hatte ich mir "Die Alternative" besorgt und sie regelrecht heißhungrig verschlungen. Ich fertigte mir ausführliche Exzerpte an, die ich an einem verstecktem Ort in meiner Wohnung hinterlegte. Der niedergeschlagene "Prager Frühling" 1968 hatte mich emotional politisiert, "Die Alternative" wurde nun so etwas wie eine theoretische Handlungsanweisung für mich. Die Konsequenzen, deren Ursachen ich hier nicht weiter ausmalen will, folgten prompt: 1984 - Rausschmiß aus der "Partei" (SED) und zwei Jahre Arbeitslosigkeit.

Wer nun glaubt, jetzt werde ich ein Klagelied über meinen Identitätsverlust als ehemahliger DDR- und jetziger BRD-Bürger anstimmen, den kann ich beruhigen. Ich will mich in meinem Artikel nicht mit dem "Identitätsdiskurs" beschäftigen, der in den letzten Jahren die politische Arena der BRD beherrscht hat und nun auch auf die ehemahlige DDR übergeschwappt ist. Wen dies aber doch ernsthaft interessiert, also wen die psychischen Vermittlungen gesellschaftlicher Identitätszusammenhänge interessieren, den darf ich auf das Buch des Hallenser Psychotherapeuten Hans-Joachim Maaz hinweisen: Der Gefühlsstau [3].

Durch die Angaben zu meiner Person will ich den Leser so rasch wie möglich mit der inhaltlichen Vielfalt und Problematik des Artikelthemas vertraut machen. Es ist deutlich zu merken, daß meine Identität nur wenig mit einem "dauernden inneren Sich-Selbst-Gleichsein" und nur wenig mit einem "dauernden Teilhaben an bestimmten gruppenspezifischen Charakterzügen" zu tun hat (wie dies Hellmuth Benesch in seinem Wörterbuch zur Klinischen Psychologie in Anschluß an Erik H. Erikson glaubt [4] ). Ich denke, daß ich mit mir ein Selbst vorgestellt habe, das weniger durch die individuelle Akkumulation "innerer Besitzstände", die durch ein zentralistisch gedachtes Ich zusammengehalten werden, bestimmt ist. Ich denke, es sind mehr die widersprüchlichen, die problematischen, die unsicheren Entwicklungsverläufe meiner Biographie, die meine Identität erkennbar machen.

Da gibt es eine Trennung, eine Scheidung von einer Frau. Wer psychoanalytisch bzw. tiefenpsychologisch orientiert ist, der kann zu Recht annehmen, daß es beim Autor eine Mutterproblematik gibt. Da gibt es den Neu-Staatsbürger der BRD, der die Alpen zum ersten Mal sieht, weil ihm das als DDR-Bürger nicht gestattet war. Da gibt es einfach den Vater, der seine Tochter liebt, aber zu ihr keine Beziehung aufbauen kann, die bestimmt ist von Alltäglichkeit. Da gibt es den Widerständler, der gegen "Vater Staat" rebelliert hat und dementsprechend auch bestraft wurde. Zu Recht kann man annehmen, daß es beim Autor auch eine Vaterproblematik gibt. Da gibt es den ehemahligen Linken, der jetzt ein ökologisches Weltverständnis sucht, dem aber die Nutzung westlicher Konsum- und Freizeitangebote wenig Kopfzerbrechen macht.

Es ist also nichts mit einer "soliden Identität" des Autors. Das Identitätsverständnis von Erikson paßt hier nicht. Erikson glaubte, Identität als einen Grad von intraindividueller Kontrolle über die eigene Lebenssituation ausmachen zu können, die nur noch von einem "totalitären Ich" aufrechterhalten werden kann [5]. Der Psychoanalytiker Norman Holland scheint eine Ahnung zu haben, wenn er meint, daß die frühere Auffassung von einer soliden Identität einem neueren Identitätskonzept weichen müsse:

"Das Persönlichste und Wichtigste, was ich habe, meine Identität, liegt nicht in mir, sondern ... in einem gespaltenem Ich" [6].

Gemeint ist hier, daß wir das Ich als ein dezentriertes zu verstehen haben, welches keine zusammenhängende Entität mehr ist, die die Macht hat, ihrer Umgebung ihre (subjektive) Ordnung aufzuzwingen. Und Hans Bertens ergänzt die Ahnung:

" Das radikal Unbestimmte des Postmodernismus (Ich werde versuchen, auf diesen Ismus einzugehen, A.K.) ist ins individuelle Ego eingezogen und hat seine frühere (unterstellte) Stabilität drastisch beeinträchtigt. Identität ist etwas ebenso Unsicheres geworden wie alles andere." [7].

Wenn Identität in unserer Zeit etwas Unsicheres geworden ist, war dann die Identität unserer Eltern, Großeltern und Urgroßeltern etwas Sicheres? Ich weiß es nicht bzw. glaube es nicht (jede Zeit bringt für die Menschen ihre eigenen Identitätsprobleme hervor). Aber, zumindest haben sie eine moderne Subjektivität entwickelt, die sich in dem Satz zusammenfassen läßt: Des Menschen Wille werde sein Himmelreich. Der moderne Mensch hat seine Begierden, seine Bedürfnisse, seine Bestimmungen und seine Anlagen entdeckt. Und er hat die Selbstverwirklichung dieses Wollens und Strebens entdeckt. Wertvoll zu handeln, gut zu leben heißt danach weniger, sein Leben nach dem Sinn einer äußeren natürlichen Ordnung zu leben bzw. auszurichten, als vielmehr das innere Wollen und Streben zu befolgen und ihnen freien Lauf zu lassen [8]. Wen das an die Formulierung " freies Spiel der Kräfte" erinnert, wenn es um Marktwirtschaft geht, der bringt das schon in den historisch richtigen Zusammenhang.

Dem Fetisch der Selbstverwirklichung, mit der man ja landläufig schon Identität meint [9], sind nicht nur die Generationen vor uns, sondern auch die meinige und bereits ein Teil der nächsten Generation verfallen (Selbstverwirklichung in der Arbeit, Selbstverwirklichung in der Freizeit, Singles, Yuppies etc.). Ich möchte es einfach die " Sucht nach Ich-Stärke" nennen. Ich Stärkung wird hierbei vom modernen Menschen als ein freies und ungehemmtes Lebenkönnen seiner Begierden, Bedürfnisse, Bestimmungen und Anlagen verstanden. Leider kann ich auch keinen Unterschied erkennen zwischen der Sucht nach Ich-Stärke bei einem Manager mit vollem Terminkalender und der Sucht nach Ich-Stärke bei einem Sektenmitglied, der bei einem Guru gewillt ist, seine letzten Bedürfnisse westlicher Prägung aufzugeben. Beide Manager und Sektenmitglied - scheinen, ein stärkeres Ich lebensnotwendig zu brauchen. Egotrip bleibt Egotrip, egal ob er sich nach innen oder außen richtet. Das " Höher, weiter, schneller" der westlichen Industrie- und Leistungsgesellschaft hat also eine ganz individuelle Entsprechung: die Sucht nach Ich-Stärke.

Postmodernes Fühlen und Denken - und ich komme damit auf die oben genannten Unsicherheiten der Postmoderne zurück - fangen nun an der Stelle an, wo wir einfach Bauchschmerzen mit dieser modernen Sucht nach Ich-Stärke bekommen. So einfach sehe ich das. Denn wir wissen ja, jede Sucht ist pathologisch bzw. kann pathologisch werden. Was sind das für Bauchschmerzen?

Um im psychotherapeutischen Sprachgebrauch zu bleiben, wissen wir daß Bauchschmerzen nur das Symptom für einen tieferliegenden psychischen Konflikt sind. D. h. , Bauchschmerzen sind als äußere Störung die Entsprechung für eine innere psychische Störung. Was sind nun zunächst diese äußeren Störungen - weiter oben sprach ich von dem Unsicheren - in unserer modernen Zeit?

Ich möchte hier nur grob einige ökologische Störungen andeuten [10]. Alljährlich klopft das Worldwatch Institute in seinem Jahresbericht " State of the World" die Erde auf ihre vitalen Lebenszeichen hin ab und gibt Bericht über ihren Zustand. Die Ergebnisse sind beunruhigend. Trotz der weltweiten Bewegung zum Schutz der Umwelt hat die Zerstörung sich beschleunigt. Nie zuvor wurden dermaßen viele, für die menschliche Existenz wichtige ökologische Systeme zerstört und Bodenschätze ausgebeutet wie in den vergangenen 20 Jahren. Im folgenden sind Entwicklungen aufgelistet, die das Ausmaß der Umweltbelastung belegen:

  • Die Bevölkerung der Erde ist um 1,6 Milliarden Menschen auf über 5 Milliarden angewachsen.
  • Der Regenwaldbestand geht jährlich um 200000 Quadratkilometer zurück.
  • Etwa 480 Milliarden Tonnen Erde gingen bis zum heutigen Tag durch Bodenerosion verloren: mehr als die Menge, welche die gesamte Landwirtschaftsfläche der USA bedeckt.
  • Die Ozonschicht ist um über zwei Prozent dünner geworden, wodurch die ultraviolette Bestrahlung der Erdoberfläche um mindestens vier Prozent anstieg. Über dem Nordpol ist eine kleine Öffnung entstanden, zusätzlich zu dem sehr großen Loch, das sich jährlich über der Antarktis auftut und zu Klimaveränderungen in der südlichen Hemisphäre führt.
  • Der Kohlendioxidgehalt in der Erdatmosphäre ist um neun Prozent nach oben gegangen. Der Gehalt von Spurengasen wie Methan, Stickoxide, Lachgas, Ozon und Fluorchlorkohlenwasserstoff (FCKWs) hat gar noch stärker zugenommen. In der letzten Dekade verzeichnete man die sechs wärmsten Jahre dieses Jahrhunderts, was darauf hindeutet, daß es sich beim Treibhauseffekt um mehr als eine wissenschaftliche Hypothese handelt.
  • Die Verschmutzung der Luft ist noch beängstigender als vor 20 Jahren. Trotz Verbesserungen in den Industrieländern des Nordens erreicht die Luftverschmutzung in Hunderten von Städten gesundheitsschädigende Werte.
  • Die biologische Verarmung der Erde schreitet zunehmend voran. Seit der Besiedlung Australiens durch die Europäer wurden von 200 Säugetiergattungen 18 ausgerottet. Weitere 40 Gattungen sind gefährdet. Nach Veröffentlichungen der Akademie der Wissenschaften in Polen besteht die Gefahr, daß die chemische Verunreinigung von Luft, Wasser und Boden und das damit verbundene Waldsterben 20 Prozent der Flora und 15 Prozent der Fauna des Landes noch vor Ende des Jahrhunderts zum Verschwinden bringen könnte. So beunruhigend diese Verluste auch sein mögen, die Schäden, die mit der Vernichtung Regenwälder Brasiliens durch die Brandrodung entstehen, sind noch viel ungeheuerlicher. Seit dem Tag der Erde 1970 sind Tausende noch unbekannter Tier- und Pflanzenarten ausgerottet worden.

Zu Beginn des neuen 90er Jahrzehnts setzen sich diese Trends nicht nur fort, sondern einige verschärfen sich deutlich. Die Abholzungsrate der Wälder ist seit Anfang der 80er Jahre um 50 Prozent gestiegen. Vor allem durch das übermäßige Verfeuern fossiler Brennstoffe (Kohle, Erdöl, Erdgas) wurde der Spitzenwert von 5,8 Milliarden Tonnen Kohlendioxid erreicht, das in der Atmosphäre abgelassen wurde. Auch weitere 90 Millionen Geburten im Jahr 1990 stellen einen Rekord dar; sie tragen zu einer höheren ökologischen Belastung der Erde bei.

Lester R. Brown, Präsident des Worldwatch Institute in New York, kommentiert diese apokalyptische Entwicklung wie folgt:

" Die Regenerationsfähigkeit der Erde ist erschöpft. Klimakatastrophe, Bodenerosion, Bevölkerungsexplosion und Waldzerstörung erfordern weit mehr als nur nationale Einzelanstrengungen. Eine globale Mobilisierung von nie gekanntem Ausmaß steht auf der Tagesordnung. Ob die Erde künftig ihre wachsende Zahl von Bewohnern ernähren kann, entscheidet sich in der Dritten Welt. Sollte es in der nächsten Dekade nicht gelingen, den Hunger dort spürbar einzudämmen, ist das Programm zur Rettung des Planeten gescheitert." [11].

Oder, um es mit anderen Worten zu sagen, sollte die Weissagung der Cree doch eintreffen (?):

" Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluß vergiftet, der letzte Fisch gefangen, werdet ihr feststellen, daß man Geld nicht essen kann!" .

Das ist also der Fortschritt. Wir, die wir ständig die " Kapitäne unserer Seele" sein wollen - wie G. Bateson sagt - , steuern das Schiff auf den Wasserfall zu. Frau Ryoju Tamo hat es bereits mit einfachen Worten in ein Gleichnis gefaßt. Doch wie sind wir als Menschen, die das " Reich Gottes" , das " Schlaraffenland" und alle großen und kleinen Träume der Menschheit jetzt und hier verwirklichen wollen? Wir versuchen es wieder und wieder. Selbst das Sisyphusscheitern macht uns nichts aus. Wir versuchen es weiter. Auf welche tieferliegende psychische Pathologie führt uns das oben geschilderte Symptom der ökologischen Bauchschmerzen? Wie gestört müssen wir sein, daß wir ständig uns versuchen, Andere versuchen und eben auch die uns umgebende Natur versuchen? Welche Größenphantasien sind hier aus welchen Minderwertigkeitsgefühlen geboren? Woher kommt dieses ungewöhnliche Maß an Selbstbezogenheit, das ich als Sucht nach Ich-Stärke bezeichne? Was ist das für eine psychische Qualität - dieser ausbeuterische und parasitäre Habitus des modernen Menschen? Die klinische Psychopathologie hat für all dies einen Namen. Spätestens mit Kernberg [12] und Kohut [13] wissen wir, daß es sich bei der hier beschriebenen Störung nur um eine narzißtische Persönlichkeitsstörung des modernen Menschen handeln kann.

" Sucht" hängt nicht nur sprachlich mit " Suchen" zusammen. Was sucht denn der durch seine Sucht nach Ich-Stärke gestörte narzißtische Mensch? Was glaubt er denn zu finden, wie es im Evangelium heißt: " Suchet, und ihr werdet finden ... " ? Aber der Text ist ja im Thomas-Evangelium etwas genauer:

" Wer sucht, soll nicht aufhören zu suchen, bis er findet; und wenn er findet, wird er erschüttert sein; und wenn er erschüttert worden ist, wird er sich wundern und wird über das All herrschen" .

Noch - so scheint es - haben wir als moderne Menschen keinen Zugang zu dem Sinn dieses Textes. Denn noch - verfolgen wir andere Suchwege, die uns innerlich wohl kaum erschüttern, die wir eher für erstrebenswert halten. Solche Suchwege sind z. B. für den ehemahligen DDR-Bürger: vom Trabant zum VW Golf und vom Golf zum Mercedes; vom Thüringer Wald in die österreichischen Alpen und von dort vielleicht über Mallorca in die USA. Ich denke, in der alten BRD ist das ähnlich, nur die Automarken und Reiseziele heißen vielleicht etwas anders. "Höher, weiter, schneller" - ein immer wieder versuchter Suchweg. Ich-Stärkung und Genuß heißt dann: noch höher, noch weiter, noch schneller. Leider - das ahnen wir heute schon - ist diese Suchspirale nicht unendlich. Sie endet spätestens an jenem besagtem "Wasserfall". Es soll dafür auch schon ein Datum geben: das Jahr 2040.

Nun ahnen wir auch schon, daß unsere Suchobjekte, die wir anscheinend so bitter notwendig haben, doch nur Ersatzobjekte für etwas anderes sind. Die Sucht nach Ich-Stärke bemächtigt sich aller möglichen äußeren Ersatzformen und Ersatzinhalte, die selbst wieder süchtig machen können: Geld, Macht, Ruhm, Besitz, Einfluß, Wissen, Vergnügen, Essen, Trinken, Askese, religiöse Vorstellungen, Drogen und, und, und ... In Gestalt von Zielen, Interessen, Kreativität und Produktivität sind sie gar noch sozial positiv besetzt. Wir wissen heute, daß dies die kompensatorische Gestalt der narzißtischen Störung ist. Die defensive Gestalt der narzißtischen Störung zeigt sich schon direkter und ist bereits sozial negativ besetzt. Es sind dies offen sichtbare psychosoziale Störungen wie: Freßsucht, Alkohol, Zigaretten, Drogen, sexuelle Störungen, aggressives Agieren von Wut, Asozialität etc. Und - der narzißtisch defensiv gestörte moderne Mensch ist einfach notwendig für den narzißtisch kompensatorisch gestörten modernen Menschen. Stelle man sich doch ´mal unseren sogenannten "Sozialstaat" ohne das eine Drittel der sogenannten sozial Schwachen vor ... ! Und stelle man sich doch ´mal Berufsstand der sozialen Helfer ohne die defensiv Gestörten vor ... ! Sie ernähren sie und für den Staat haben sie eine Alibifunktion, um nicht die eigene Störung zu merken.

Um wieder auf obiges Zitat aus dem Thomas-Evangelium zurückzukommen, es muß etwas geben, von dem sich unser Erwachsenen-Ich nicht "erschüttern" lassen will und deshalb auf Ersatzsuchobjekte ausweicht. Wir haben es vor allem Wilhelm Reich [14] und anderen Arbeiten über frühkindlich gestörte Emotionalität zu danken, daß wir heute schon sehr genau wissen, worauf wir den Focus zu richten haben, wenn wir uns ernsthaft dieser Problematik nähern wollen. Es sind die realen, schweren Frustrationen, die ein Kind bereits pränatal bzw. dann in den ersten Lebensjahren in einer gestörten Eltern-Kind-Beziehung erleidet. Frustriert werden vor allem die vital wichtigen emotionalen Grundbedürfnisse wie die Bedürfnisse nach Von-den-Eltern-liebend-gewollt-sein, Von-den-Eltern-liebend-angenommen-sein; frustriert werden die Bedürfnisse nach liebendem Haut- und Körperkontakt, nach emotionaler Wärme und Nähe; frustriert wird das Lebenkönnen frühkindlicher Sexualität und frühkindlicher Emotionalität wie Angst, Lust und Wut, die bereits als emotionale Grundbeschaffenheiten in jedem Fötus, Säugling und Kleinkind angelegt sind.

Die Frustrationen, die Enttäuschungen, die dem Kind durch selbst defensiv oder kompensatorisch gestörte Eltern zugefügt werden, erzeugen in ihm starke Affekte von Zukurzkommen, Wut und Aggression. Das Gefühl, im Grunde ungeliebt zu sein und immer nur auf Rachsucht, Neid und Haß zu stoßen, wird dann vom Kind wiederum defensiv oder kompensatorisch abgewehrt durch die Überzeugung, "etwas Besonderes zu sein". Der nächste moderne Mensch mit der Sucht nach Ich-Stärke ist sozial geboren und begibt sich auf die Suche nach ... Jetzt wissen wir es. Sein Suchen und Finden von Ersatzobjekten ist in Wirklichkeit sein Suchen, seine Sehn-Sucht nach Liebe, Wärme und Geborgenheit, letztlich seine Sehnsucht nach liebender Beziehung und nach Beziehung überhaupt.

"Wer sucht, soll nicht aufhören zu suchen, bis er findet; und wenn er findet, wird er erschüttert sein ... ". Als tiefenpsychologisch und körperorientiert arbeitender Psychotherapeut weiß ich, wovon ich berichte. Ein Patient, der sich zu seinen frühkindlichen Frustrationen regelrecht qualvoll vorarbeitet, die ja meist schon in seiner prästrukturellen bzw. präverbalen Entwicklungsphase stattfanden, der ist tief erschüttert über diese Enttäuschungen und reagiert mit brüllender Wut, mit herzhaftem Weinen und Schluchzen, mit herzzerreißender Sehnsucht.

Dieses Erschüttertsein ist letztlich ein Sich-einlassen auf den tiefen Schmerz, als Kind seine Grundbedürftigkeiten nicht befriedigt bekommen zu haben. Und dieses Sich-erschüttern-lassen hat den äußerst wichtigen therapeutischen Sinn, die wirkliche Sehnsucht nicht zuzuschütten. Genau hier liegt die therapeutische Chance der Annahme und Bewältigung unserer unerfüllten Sehnsüchte. Es ist genau die Stelle, an der ich die Befriedigung meiner Sehnsüchte mit Ersatzobjekten aufgeben kann. Ein Kind ist auf Gedeih und Verderb bei der Befriedigung seiner Bedürfnisse auf die Eltern angewiesen. Wurden diese Bedürfnisse nicht befriedigt, so bleiben ihm keine anderen Möglichkeiten als die der neurotischen Panzerung (Wilhelm Reich) und der defensiven bzw. kompensatorischen Sucht nach Ich-Stärke. Läßt sich dieses Kind nun als Erwachsener auf seine früher erlebten und im wahrsten Sinne des Wortes erschütternden Enttäuschungen ein, so kann er dies bewältigen, indem er nun den Schmerz darüber als zu ihm gehörig annimmt und die Chance wahrnimmt, sich die Befriedigung seiner emotionalen Bedürfnisse selbstbestimmt und bewußt zu gestalten. Also - es macht Sinn, wenn das Zitat aus dem Thomas-Evangelium weitergeht wie folgt: " ... und wenn er erschüttert worden ist, wird er sich wundern und wird über das All herrschen.". "Herrschen" meint hier also nicht das narzißtische Beherrschen, sondern das Bewältigen und Umgehen mit seinen Sehnsüchten.

Ich will an dieser Stelle an einem Fallbeispiel das eben Beschriebene konkret machen und gleichzeitig einen Einblick in die körperorientierte, psychotherapeutische Arbeitsweise geben, wie wir sie in unserer Klinik entwickelt haben. Ein Patient, nennen wir ihn Herrn G. , nimmt in unserer Klinik an einer Gruppentherapie der sogenannten Stufe III teil, in der der Schwerpunkt auf einer körperorientierten emotionalen therapeutischen Arbeit liegt. Herr G. hatte bereits vor einigen Jahren bei uns im Hause eine tiefenpsychologisch fundierte Gruppenpsychotherapie absolviert, in der es vor allem um die Entwicklung seiner Fähigkeiten zum Herstellen und Klären von emotionalen Beziehungen ging (Stufe II). Herr G. meldet sich nun zu einer vierwöchigen stationären Gruppenpsychotherapie der Stufe III mit einem Anliegen, welches vor allem eine Partnerschaftsproblematik aufzeigt: Mit seiner Ehefrau habe er seit zwei Jahren keinen Geschlechtsverkehr mehr, er versuche dies durch "suchtartiges" Onanieren und Fremdgehen auszugleichen, er spüre aber eine zunehmende Abwehr gegen Geschlechtsverkehr allgemein und könne sich - wenn überhaupt - nur auf ein aggressives "Abbumsen" einlassen.
 
Das therapeutische Setting der Stufe III besteht darin, daß der Therapeut zunächst einzeltherapeutisch mit dem Patienten vor den anderen Gruppenmitgliedern den Focalkonflikt bzw. den Focus des emotionalen Problems herausarbeitet. Bei Herrn G. offenbart sich eine Mutterbeziehung, die von der Mutter zu ihm von Kälte und Herzlosigkeit geprägt war. Der Standardsatz der Mutter war: "Mit 18 fliegst Du raus!" , was dann auch prompt 14 Tage nach seinem 18. Geburtstag geschah. Der Focalkonflikt von Herrn G. läßt sich in etwa wie folgt formulieren: Auf dr einen Seite des Bedürfnis nach liebender Beziehung und erfüllter Sexualität und auf der anderen Seite eine massive Abwehr gegen emotionale Nähe und gegen ein Sich-liebend-verströmen-können. Die emotionale Betroffenheit von Herrn G. über diese Konflikthaftigkeit leitet den nächsten Schritt der körperorientierten emotionalen Einzelarbeit ein. Herr G. hat nun die Möglichkeit, in einem tiefenpsychologisch fundiertem Einzelgespräch die Bearbeitung des Problems fortzusetzen, oder er entscheidet sich, die emotionale Arbeit körperorientiert auf der "Matte" fortzuführen. In dem hier vorgestellten Fall entscheidet sich Herr G. , sich auf die Matte zu legen. Über freies Assoziieren läßt er sich auf die Sehnsucht nach seiner Mutter ein. Die Sehnsucht nach seiner Mutter macht er an dem Hochzeitsbild der Mutter fest. Auf diesem Bild sei die Mutter eine schöne Frau mit schwarzen Haaren in einem langen weißen Kleid gewesen. Auf der Matte reagiert er mit einem ersten sehnsuchtsvollem Weinen und Schluchzen. Die erinnerte Realität über die Mutter stand jedoch im Widerspruch zu diesem Bild. Der Patient erinnert sich, daß die Mutter fett wie ein Faß gewesen sei. Er habe sie als unattraktiv und schmierig erlebt. Über ein weiteres, tieferes Einlassen erinnert sich plötzlich der Patient des Genitalgeruches seiner Mutter wie er ihn als kleines Kind bereits wahrgenommen hat und da bricht es aus Herrn G. ödipal heraus: "Rangelassen hat sie mich nicht, aber gestunken hat sie wie Sau!". Tiefer Ekel überkommt ihn auf der Matte, der sich durch Husten, Würgen und Abkotzen äußert. Herr G. kotzt regelrecht unter viehisch starken Schmerzen große Fladen blutigen Schleims. Jahrzehntelang runtergeschluckter Ekel und Haß gegenüber der Mutter und in der Übertragung auch gegenüber anderen Frauen bahnt sich von innen nach außen. Nach dieser affektgeladenen Reaktion wird mit dem Patienten das Geschehene besprochen. Wir nennen das Integrieren bzw. Legieren, das Unbewußte wird jetzt im Gespräch bewußt gemacht. Herr G. erkennt, daß er seinen Ekel vor der Mutter und seinen Haß, von ihr keine Liebe und Wärme erfahren zu haben, auf seine Ehepartnerin und andere Frauen übertragen hat. Er gewinnt Einblick in sein gestörtes Verhältnis zu seiner Männlichkeit, was bis zu bestimmten Sexualpraktiken reicht, die er benutzt (z. B. manuelle Technik statt genitalem Verkehr), um sich nicht auf eine wirkliche Nähe zu einer Frau einlassen zu müssen. Nach einer solchen Einzelarbeit teilen die anderen Gruppenmitglieder, die in gewisser Weise das "emotionale Auffangnetz" für eine solche Arbeit bilden, Herrn G. mit, welche Gefühle die Arbeit bei ihnen bezüglich ihrer eigenen Problematik ausgelöst hat.

Ich denke, dieses Fallbeispiel zeigt recht deutlich, was es psychotherapeutisch heißen kann, sich erschüttern zu lassen, d. h. , sein erfahrenes Leid anzunehmen und bewältigen damit umzugehen. Ich komme damit zu einer ersten Bestimmung, wen ich für einen identischen Menschen halte. Der identische Mensch ist vor allem ein leidensfähiger Mensch. Er kann sich auf seine wahren Sehnsüchte einlassen und benötigt keine Ersatzobjekte und Ersatzwerte der Industriegesellschaft, um diese Sehnsüchte nicht zu fühlen. Er ist ein angstfähiger , ein lustfähiger und wutfähiger Mensch. Angst, Lust und Wut ist das, was wir intrapsychisch körperliche Emotionen nennen. Mit dieser Emotionalität werden wir geboren. Und es ist die Emotionalität, deren Lebenkönnen bereits frühkindlich in unserer modernen Leistungsgesellschaft durch defensive und kompensatorische Eltern frustriert wird. Bereits hier entscheidet sich, ob die intrapsychisch körperliche Emotionalität dann später auf der sozialen Ebene als interpersonell soziale Beziehungsemotiomalität leben darf. Eltern, die eben ständig mit ihrer materiellen Existenzsicherung und -erweiterung beschäftigt sind - statt mit der Gestaltung liebender innerfamiliärer und außenfamiliärer Beziehungen - , können zwangsläufig nicht die emotionalen Grundbedürftigkeiten ihrer Kinder befriedigen. Da nützt selbst keine Mutter, die zu Hause bleibt und nicht arbeiten geht, wenn sie letztlich - ökonomisch gesehen - die Arbeitskraft des Mannes reproduzieren muß.

Der identische Mensch ist damit auch der liebesfähige und der beziehungsfähige Mensch. Und hier liegt die Tragik des identisch sein wollenden Menschen: Wer seine Eltern nicht wirklich einander liebend erlebt hat, der ist auch selbst nicht liebesfähig. Denn es ist nicht nur, daß defensive und kompensatorische Eltern ihre Kinder nicht liebend annehmen und begleiten, sondern es ist auch, daß diese Eltern einander nicht lieben.

Ich komme zu einer zweiten Bestimmung des identischen Menschen. Der identische Mensch ist anders genußfähig als der defensiv und kompensatorisch gestörte Mensch. Der defensiv und kompensatorisch gestörte moderne Mensch sieht die ganze Welt nur noch unter dem Prinzip des Nutzens für ihn. Er will die immer bessere Befriedigung seiner materiellen und geistigen Bedürfnisse. Dies ist ein ziel- und rastloses Unterfangen, welches dem Menschen nie die Möglichkeit zur Vollendung gewährt. Noch höher, noch weiter, noch schneller ist der scheinbare Zwang seines Tuns und Werdens. Der indische Dichter und Philosoph Tagore beschreibt kritisch dieses Verhaltensmuster der Menschen in der westlichen Industriegesellschaft:

"Sie wollen immer nur tun und nie sein ... und sie kennen nicht die Schönheit der Vollendung."[15].
 
Der identische Mensch steht nicht unter dem Zwang des beständigen Tuns und Werdens. Er kann einfach sein. Er kann sich mit seinen wahren Sehnsüchten annehmen. Und er kann dies über seine Sinne und Emotionen als etwas Inneres in ihm auch genußvoll annehmen. D. h. , er kann sich selbst auch genießen, er braucht nicht erst das äußere Ersatzobjekt um zu genießen. Der identische, in diesem Sinne genußfähige Mensch ist der Widerpart zum defensiv und kompensatorisch gestörten Leistungsmenschen.

Wenn man jetzt mißtrauisch wird an dieser Stelle und meint, da redet ein Romantiker einer neuen Innerlichkeit das Wort, dann, so denke ich, kann man ganz zu recht mißtrauisch sein. Aber ..., das rationalistische Gegenstück mit seinem äußerlichen "Höher, weiter, schneller" hat uns zwar Fortschritt gebracht, uns dafür aber bereits an die äußerste Grenze der ökologischen Katastrophe gesteuert. Läßt sich das eingangs gestellte Thema "Identität im Spannungsfeld von "Höher, weiter, schneller" und dem Lebenkönnen von Angst, Lust und Wut" nur verkürzt kultur- und wissenssoziologisch umformulieren in: Identität im Spannungsfeld von Rationalismus und Romantizismus? Schaut man sich bei den Denkern unserer Zeit um, so scheint es, immer wieder auf diesen Gegensatz zwischen Rationalismus und Romantizismus hinauszulaufen.

Adorno [16] spezifiziert den autoritären und den emanzipierten Charakter. Marcuse [17] unterscheidet den eindimensionalen und den mehrdimensionalen Menschen. Fromm [18] sieht die Lebensorientierung des Habens, das sich um Sachen dreht, und des Seins, das sich um Menschen dreht. Mumford [19] und im Anschluß auch Bahro unterscheiden in das Megamaschinelle und das Organische. Esoterik und New Age-Bewegung benutzen diese Unterscheidungen ebenso fleißig, indem sie sich der alten chinesischen Naturphilosophie bedienen und dies dann Yang und Ying nennen.

Identität nun, so meine ich, läßt sich nicht über die Fixierung nur an eine Seite der genannten Gegensätze ausmachen. Und hier brauchen wir unter Umständen gar nicht die alten Inder und Chinesen befragen, sondern können es mit unserem guten alten Hegel [20] halten. Ganz hegeljanisch habe ich versucht, dies zu formulieren:

Identität bestimmt sich über das momentan Trennende, was verschieden zu mir und damit in mit ist. Erlebbar wird Identität als Verschwinden dieses Anderssein von etwas in mir. Identität kann sich folglich nicht an Gegensätzen vorbeimogeln, sie lebt durch sie. Nicht die Sichselbstgleichheit ist Identität, sondern das gewordene und werdende, also das seiende Sich-ineinander-verwandeln von Gegensätzen.

Wirkliche Ich-Stärke und Identität sind damit also qualitative Beschaffenheiten inmitten dieser Gegensätze. Sie drücken sich aus: als Differenzierungstätigkeit zwischen den Gegensätzen, als Vermögen zum (Auf-)Spalten von Gegensätzen und als Fähigkeit zum Übergang von einem Gegensatz zum anderen [21]. "Polyphrenie ist ... die gelingende Form der Identität, nicht deren Bedrohung." [22]. Zwischen solchen Spaltungen, die ja keine psychopathologischen Abspaltungen zu sein brauchen, geht es letztlich um Vermittlungen. Hier liegt das Wesen von Identität - nämlich in der Vermittlung von Gegensätzen.

Wem das Wort Polyphrenie zu bedrohlich erscheint, der kann ja statt dessen "Polyphonie" benutzen. Und man muß nicht erst ein Schönberg-Fan sein, um zu erkennen, daß Identität auch einen Klang haben kann. Aber die mit Poly... gemeinte Pluralisierung stößt natürlich auf Abwehr und damit auf Angst. Diese abwehrende Angst ist der Reflex des narzißtischen, all-wollenden Ich. Denn das narzißtische Ich hat einst nichts von dem Vielem bekommen und will jetzt dafür all das Viele haben. Das narzißtisch gestörte Kindheits-Ich zu bearbeiten, ich denke, das ist unsere vielleicht einzige existentielle Überlebenschance in psychischer, aber auch in materiell-ökologischer Hinsicht. Es gilt, erwachsen zu werden, reifer zu werden - und das bedeutet (wie wir von dem französischen Philosophen und Psychoanalytiker Lacan [23] lernen können), Vielheit zu akzeptieren und mit Vielheit umgehen zu können. Das erwachsene Ich ist das plurale und pluralisierungsbereite Ich [24].

Und genau an dieser Stelle liegt der mögliche Sinn von Psychotherapie überhaupt. Wenn ich ober mehr philosophisch von der Vermittlung pluraler Gegesätze sprach, was Identität ausmacht, so meine ich psychotherapeutisch, daß es um die Bewältigung eben dieser Gegensätze geht. Bewältigung ist aus meiner Sicht die Zielstellung einer konfliktaufdeckenden Psychotherapie. Der Begriff der Heilung hat meiner Meinung nach in der Psychotherapie nichts zu suchen. Heilung hieße etwas ganz machen, wieder etwas zu einem Ganzen vereinen, was in Wirklichkeit gespalten und in seiner gegesätzlichen Vielheit ist. D. h. , Gegensätze müssen in mir leben können, inwieweit ich sie bewältige, ist gleichzeitig bestimmend für die Beschaffenheit meiner Neurose. Der erlebte Grad der Bewältigung - dies ist meine Ich-Identität. Dieser erlebte Grad der Bewältigung wird in verschiedenen Lebensstadien unterschiedlich sein und auch unterschiedliche Formen aufweisen. Das bis zum jetzigen Zeitpunkt Bewältigte, also das, was ich im Hier und Jetzt erleben kann, auch annehmen zu können, macht mich genußfähig für mein jetziges Sein. Diese Annahme befreit mich von dem Zwang des beständigen Werdens im Sinne von "Höher, weiter, schneller".

Zum Schluß meiner Überlegungen will ich noch auf einen Aspekt hinweisen, der meines Erachtens sogar den Kern der vorgestellten Problematk ausmachen kann. Man wird längst bemerkt haben, daß solche Benennungen von Gegensätzen wie Rationalismus versus Romantizismus, Haben versus Sein, Yang versus Yin, "Höher, weiter, schneller" versus Lebenkönnen von Angst, Lust und Wut sich letztlich auf den Gegensatz von Männlichem und Weiblichem zurückführen lassen. Und ich habe große Lust, eine dritte Überschrift zum Thema anzubieten: Identität im Spannungsfeld von Männlichem und Weiblichem. Aus der Sicht meiner Erfahrungen als Psychotherapeut ist dies der Zentralpunkt, auf den irgendwann jede Therapie stößt. Identität im Spannungsfeld von Männlichem und Weiblichem - dies wäre jetzt für den Artikel ein neues, eigenständiges Thema. ich möchte mich daher nur auf einige Gedanken beschränken und dies als Ausblick verstanden wissen.

Ich werde hier der Versuchung widerstehen, eine begriffliche Bestimmung für Männliches und Weibliches abgeben zu wollen. In Kunst, Literatur und in der psychologischen Fachwelt ist dieser Gegensatz vielleicht der, über den am meisten nachgedacht und geschrieben wurde. Ist er doch nicht nur ein existentieller, die gesamte Menschheit betreffender Gegesatz, sondern hat er vielmehr für uns eine ganz persönliche und alltägliche Bedeutung. Die orthodoxe Psychoanalyse hält sich sehr bedeckt, was diesen Gegensatz betrifft. Mehr als das dieser Gegensatz viel komplexer sei, als allgemein angenommen werde, scheint ihr dazu nicht einzufallen [25]. C. G. Jung und seine Frau Emma Jung sind mit ihrem Charakterisierungen des Männlichen und Weiblichen als Anismus und Anima schon weitgehender. Anismus sehen sie als Logosprinzip und Anima - als Erosprinzip. Logos ist das Vater- und Mannprinzip, das Prinzip der prometheischen Weltgestaltung. Eros ist das Mutter- und Frauenprinzip. "Ihre Psychologie gründet sich auf das Prinzip des Eros, des großen Binders und Lösers, während dem Mann seit alters der Logos als oberstes Prinzip zugedacht ist. Man könnte den Begriff des Eros in moderner Sprache als seelische Beziehung und den Logos als sachliches Interesse ausdrücken." [26]. Eros schafft Wertbeziehungen zu Menschen, Logos - Zweckbestimmungen zu Sachen. "Es sind die Triebe der Macht und er Erotik, welche unvermeidlicherweise konstelliert werden." [27]. Ich denke, hier ist es auf den Punkt gebracht: Identität liegt inmitten der "unvermeidlichen" und gegensätzlichen "Konstellation" von Männlichem und Weiblichem.

Welche Konsequenzen ergeben sich für unsere Überlegungen? Identität ist immer an ein Ich gebunden. Und wenn Identität immer sowohl mit Männlichem als auch mit Weiblichem verbunden ist, dann ist identisches Verhalten und Erleben männliches und weibliches Verhalten und Erleben in einer Person - egal, ob diese Person eine Frau oder ein Mann ist. Als Mann kann ich sagen, daß Weiblichkeit das Anderssein von mir als Mann ist, was aber gleichzeitig in mir ist. Eine Frau kann sagen, daß Männlichkeit das Anderssein von ihr als Frau ist, was aber gleichzeitig in ihr ist. So gesehen gibt es aus meiner Sicht keine nur weibliche oder männliche Identität. Es gibt nur eine so oder so geartete Bewältigung des Gegesatzes von Männlichem und Weiblichem in einer Person, was dann eine mehr gestörte oder eine mehr gesunde Identität ausmacht. Und trotzdem wenn ich z. B. als Mann Weibliches und Männliches in mir identisch vereinige, werde ich immer Mann bleiben. Und auch eine Frau wird immer eine Frau bleiben, trotzdem sie Männliches und Weibliches in sich identisch vereinigt. Entscheidend ist der Grad der Bewältigung zwischen beidem. Eine Politikerin oder eine Managerin kann - wie uns die Geschichte und Gegenwart lehrt - männlicher und rationalistischer sein als Männer. Ein Hausmann oder ein liebender, seine Kinder aufziehender Vater kann weiblicher und romantizistischer sein als Frauen.

Meine Erfahrungen als Psychotherapeut sind, daß wir frühkindlich und im Laufe der weiteren Entwicklung zu wenigwirklich Weibliches und zu wenig wirklich Männliches bekommen, erfahren und erleben konnten. Die als Erwachsener produzierte Lösung - der weibliche Mann bzw. die männliche Frau - ist aus meiner Sicht eine neurotische Lösung. Psychotherapie hat sich in meinem Verständnis mit der Bewältigung dieses Defizits an Befriedigung sowohl männlicher als auch weiblicher Bedürftigkeiten zu beschäftigen. Der Junge und spätere Mann wird dies anders zu bewältigen haben als das Mädchen und die spätere Frau. Aber beide - wenn man/frau so will - sitzen im gleichen Boot - im erlebten Defizit an wirklich Männlichem und wirklich Weiblichem.

Stichwort "Boot" - damit schließt sich der Kreis, und ich möchte nochmals an das Gleichnis der Japanerin Ryoju Tamo erinnern: Es geht um das Schiffchen, das auf einen Wasserfall zutreibt. Ich glaube, weder nur das männliche Prinzip noch nur das weibliche Prinzip wird den Kahn zum Halten bringen oder ihn gar zum Richtungswechsel veranlassen. Aber, ich denke auch, es gibt eine Chance. In der Tradition Hegels kennen wir einen Prozeß, den Hegel Aufhebung nannte. Bei dem Prozeß der Aufhebung geht es darum daß sich die Dominanz innerhalb eines Gegensatzes, also von einer Gegensatzseite zu einer anderen Gegensatzseite hin verändert bzw. umschlägt. Beide Gegensatzseiten bleiben dabei erhalten, werden so aufgehoben; die ehemals dominierende Seite wird nun von der anderen Seite dominiert. Und beide Seiten bekommen als Ganzes eine neue Qualität.

Ich meine hier liegt unsere Chance. Es gilt eine Identität anzustreben, in der das Weibliche das Männliche dominiert. D. h. z. B. für mich als Mann, daß ich Mann bleiben kann, aber das Weibliche in mir auch leben darf; d. h. auch, daß das Lebenkönnen von Angst, Lust und Wut mir wichtiger ist als das Streben nach "Höher, weiter, schneller", ohne das letztere nun unbedingt lassen zu müssen, was eine Utopie wäre. Gesamtgesellschaftlich heißt das - Dominanz der Beziehungsgesellschaft über die Leistungsgesellschaft.


 
 
ANMERKUNGEN
 Zurück zur Übersicht 

 
[1]
Bahro, R.: Logik der Rettung, Stuttgart u. Wien 1989
[2]
ders.: Die Alternative, Köln, Frankfurt a. Main 1977
[3]
Maaz, J. -J.: Der Gefühlsstau, Berlin 1990
[4]
vgl. Benesch, H.: Wörterbuch zur Klinischen Psychologie, Bd. 2, S. 237, München 1981
[5]
vgl. Keupp, H.: Identitäten im Umbruch: Das Subjekt in der "Postmoderne", in: Initial, Heft 7, S. 700, Berlin 1990
[6]
Holland, N.: Postmodern psychoanalysis, in: I. Hassan a.S. Hassan (Hrsg.): Innovation/Renovation: New perspectives on the humanities, S. 304, Madison 1983
[7]
Bertens, H.: Die Postmoderne und ihr Verhältnis zum Modernismus, in: D. Kamper u. W. van Reijen (Hrsg.): Die unvollendete Vernunft: Moderne versus Postmoderne, S. 93 f., Frankfurt a. Main 1987
[8]
vgl. Schmidt, H.: Zwischen moderner Identität und postmoderner Differenz, in: Initital, Heft 7, S. 675 ff. Berlin 1990
[9]
vgl. Huber, J.: Herrschen und Sehnen, S. 309 ff. , Weinheim; Basel 1989
[10]
vgl. Brown, L. R.: Den Kampf gegen die Apokalypse führen in: taz, 24. 12. 1990, S. 74, Berlin 1990
[11]
ders. ebenda
[12]
Kernberg, O.: Borderline-Störungen und pathologischer Narzißmus, Frankfurt a. Main 1978
[13]
Kohut, H.: Narzißmus, Frankfurt a. Main 1973
[14]
Reich, W.: Charakteranalyse, Köln 1989
[15]
zit. nach Waligora, M.: Versuch über R. Tagore, unveröffentliches Manuskript, S. 9, Berlin o. J.
[16]
Adorno, Th. W. u. a.: Der autoritäre Charakter, Amsterdam 1968
[17]
Marcuse, H.: Der eindimensionale Mensch, Neuwied 1967
[18]
Fromm, E.: Haben oder Sein, Stuttgart 1976
[19]
Mumford, L.: Mythos der Maschine, Frankfurt a. Main 1970
[20]
Hegel, G. W. F.: Wissenschaft der Logik I u. II, Frankfurt a. Main 1969
[21]
vgl. Welsch, W.: Überlegungen zur Transformation des Subjektes, in DZfPh, Heft 4, S. 358, Berlin 1991
[22]
ders. ebenda
[23]
Lacan, J.: Ecrits, Paris 1966
[24]
vgl. Welsch ..., S. 360
[25]
vgl. Laplanche, J./Pontalis, J.-B.: Das Vokabular der Psychoanalyse, S. 303, Frankfurt a. Main 1989
[26]
Jung, C. G.: Grundwerd, Bd. 9, S. 37
[27]
ders. ebenda, Bd. 7, S. 74
 
 Zurück zur Übersicht