Praxis für Psychotherapie Dr. Phil. Arnim Krüger




Körperwahrnehmung in der psychodynamischen Einzeltherapie [*]
oder
"Was könnte die Psychoanalyse von der Körpertherapie lernen?"
[1]

Die psychodynamische Einzeltherapie ist genuin eine psychoanalytische Therapie, denn sie arbeitet mit Übertragung und Gegenübertragung. [2] Übertragung und Gegenübertragung gelten immer noch als die wichtigsten und unverzichtbaren Bestandteile einer analytischen Therapie. [3]

Körperwahrnehmung in der Behandlungssituation und im therapeutischen Prozeß der psychodynamischen Einzeltherapie zu reflektieren, macht primär nur Sinn, wenn man sie zentral eingebettet in das komplexe Geschehen von Übertragung und Gegenübertragung erlebt und begreift. Auf der einen Seite lassen die Körperlichkeit des Patienten und die Körperlichkeit des Therapeuten bestimmte Übertragungsgefühle und -reaktionen beim Patienten selbst entstehen. Auf der anderen Seite lassen die Körperlichkeit des Therapeuten und die Körperlichkeit des Patienten bestimmte Gegenübertragungsgefühle und -reaktionen beim Therapeuten selbst entstehen.

Ein Beispiel (aus einer psychodynamischen Einzeltherapiestunde):

Ein 44jähriger, narzißtischer Patient wehrt aufkommende Nähebedürfnisse und -gefühle zum Therapeuten meist mit der "Zwei Schritt vor, ein Schritt zurück -Politik" ab. Während er in den vergangenen Stunden vorsichtig und mit leisen Zwischentönen Kontakt zu seiner Bedürftigkeit bekam, geht er diese Stunde wieder jenen "einen Schritt zurück". Sein "Karl Lagerfeld - Zopf" ist frisch und straff nach hinten gekämmt, die Augen funkeln kampfeslustig wie ein Platzhirsch und fixieren mich kontrollierend, der Oberkörper ist aufgebläht und beugt sich gleichzeitig weit zu mir herüber. Vordergründig spüre ich das Eindringliche, das Beherrschende, was von seiner Körperlichkeit ausgeht (im Hintergrund ahne ich auch das Mich-erreichen-wollen). Mit kaum verhaltener Theatralik erzählt er mir, wie er den Sinn eines alten Rocktitels "Time is on my side" neu entdeckt hätte. Fast triumphierend meint er, daß dies für ihn vor allem bedeute, daß er warten könne. Seine unüberhörbare Botschaft ist, daß er aussitzen könne, bis ich mich ihm nähern würde und er sich daher mir nicht nähern zu brauche.

Während ich in der ersten Zeit seiner Therapie meist mit Vorsicht oder ähnlicher "Kampfeslust" auf Grund meiner narzißtischen Anteile reagiert hatte, spüre ich inzwischen Langweile und Müdigkeit bei seinen immer wiederkehrenden narzißtischen Attitüden (linear übersetzt = Körperhaltungen). Ich lehnte mich zurück, mein Blick wurde wie von einem Schleier zugezogen, mein Körper nahm eine distanzierte Beobachterposition ein. Daraufhin reklamierte er, so seine Worte, mein "neutrales Verhalten und den Schlafzimmerblick", dies mache ihm "zu schaffen und ärgerlich". Auf meine Frage hin, ob ihn das an irgendetwas erinnern würde, antwortete er nach einer kurzen Be-sinn-ung: "Mutter war auch so!". Er habe immer ihren Augenkontakt gesucht: "Wie kuckt sie denn jetzt?". Wenn sie nicht freundlich kuckte, dann hatte er das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben. Meine deutende Anfrage, ob dies bei ihm ein Gefühl ausgelöst hätte, nicht richtig zu sein, bejaht er mit starker Betroffenheit.

D.h., primär meine körperliche Gegenübertragung, die eine Reaktion auf sein narzißtisch-körperliches Beziehungsangebot war, ließen ihn in eine Übertragung narzißtischer Wut zu mir kommen und ihn gleichzeitig den alten Schmerz des Nicht-gemeint-seins, des Nicht-richtig-seins spüren. Und sehr im Sinne einer realeren Selbstwahrnehmung formuliert er dann für unsere Beziehung: "Solange ich das nicht klar kriege, ob ich richtig bin, solange kann ich auch Ihre Solidarität mit mir nicht annehmen.". Er reflektiert hier ganz klar einen Teil seiner Näheproblematik und der Problematik bei der Findung eines realen Selbst.

Wenn in der psychodynamischen Einzeltherapie, die als Kommunikationsform die Sprache wählte, auch körpersprachlich kommuniziert wird, legen sich einige Fragen nahe: [4]

  • Was über- und vermittelt der Patient mit seiner Körperlichkeit, die u.a. als Körpersprache wie Gesichtsausdruck, Blickkontakt, Mimik, Gestik, Körperhaltung, Körperorientierung, Körperbewegung, energetisches Niveau, Körperfärbung, Stimme, Intonation etc. zum Ausdruck kommt?
  • Was intendiert der Patient körperlich unbewußt und bewußt?
  • Entspricht die Wahrnehmung des Therapeuten der unbewußten oder bewußten Intention des Patienten?
  • Welche Beziehungen haben die körpersprachlichen Mitteilungen des Patienten zu dem, was gleichzeitig sprachlich ausgedrückt wird?

Diese Fragen sind natürlich nicht nur in die Richtung Patient Therapeut, sondern auch in die Richtung Therapeut Patient zu stellen. M.E. sind sogar die körperlichen Gegenübertragungsphänomene des Therapeuten, so er sie bei sich kennt, ein äußerst wertvolles Material, um den Patienten hilfreich konfrontieren und unterstützen zu können. Wirkliche Empathie und wirkliches Containment seitens des Therapeuten für den Patienten ist vor allem eine "Körperempathie" (body-empathy), die ihren Ursprung in geglückten frühen Objektbeziehungen zwischen Mutter und Kind hat. So hat sich bei mir in den letzten Jahren so etwas wie ein "innerer Katalog" entwickelt, der mit ausreichender Variabilität gegenübertragungsmäßig nicht ausgedrückte Gefühle von Patienten wahrnimmt.

Dafür einige kleine, unvollständige Beispiele:

  • Druck in und auf meiner Brust - meistens eine Form von abgewehrter Angst beim Patienten;
  • mein Herz zieht sich zusammen - abgewehrte Angst oder Angst vor sehnsuchtsvoller, liebevoller Hingabe seitens des Patienten, aber auch abgewehrte Wut kann dies bedeuten;
  • Würge- und Ekelempfindungen nach der Therapiestunde - der Patient wehrt gefühlsmäßig ab, was er alles an Schlimmen und Grauenvollem hat schlucken müssen;
  • Magen- und Oberbauchbeschwerden bei mir - meistens handelt es sich dann um eine Form von abgewehrter Wut beim Patienten gegen das jeweils andere Geschlecht;
  • Stirnkopfschmerzen bei mir - der Patient wehrt seine narzißtische Grundproblematik rationalisierend ab;
  • Kopf- und Ohrdruck - auch Abwehr der narzißtischen Problematik verbunden mit dem abgewehrten Schwerpunkt, keine Existenzberechtigung gehabt zu haben;
  • schnell aufkommende lähmende Müdigkeit - der Patient wehrt irgendeine vitale oder soziale Bedürftigkeit ab;
  • Angina pectoris-ähnliche Beschwerden bei mir - meistens handelt es sich dann um eine abgewehrte Wutproblematik beim Patienten;
  • überdeutliches Schweregefühl in den Beinen - der Patient "hebt ab", ist nicht "geerdet";
  • genitale Erregung und sexuelle Phantasien bei mir - meist handelt es sich dann beim Patienten um die Abwehr frühkindlich sexueller Bedürfnisse wie nach Wärme, Geborgenheit, Hautkontakt, Schutz, Kuscheln etc.

Natürlich "leide" ich nicht die gesamten 50 Minuten unter diesen Gegenübertragungsempfindungen bzw. -gefühlen. Sie sind oft eher nur ein "Anflug" einer Empfindung oder eines Gefühls. Über eine Konfrontation, eine Klarifizierung oder über eine Deutung gebe ich dann dem Patienten, falls psychodynamisch sinnvoll und notwendig, eine Rückkopplung über sein abgewehrtes Gefühl mittels meiner Gegenübertragung. Meine Rückkopplung kann den Patienten auf drei verschiedenen Ebenen seiner unbewußten oder bewußten, seiner wahrgenommenen oder nicht wahrgenommenen Körperlichkeit erreichen: erstens, auf der Ebene der Empfindung, zweitens, auf der Ebene des Gefühls, drittens, auf der Ebene des Ausdrucks. Befindet sich der Patient nur auf der Empfindungsebene hat er meist kein Gespür und keine Benennung für das Gefühl, geschweige, daß er das Gefühl ausdrücken kann. Spürt der Patient das Gefühl bereits, heißt es noch nicht, daß er es auch zum Ausdruck bringen kann. Aber wiederum ein Patient, der in einen gefühlsmäßigen Ausdruck kommen kann, muß noch lange nicht dieses Gefühl auch spüren und empfinden. Vor allem hysterische und narzißtische Patienten sind "gut" im Ausdruck, aber spüren und empfinden dabei oft nicht wirklich. Gerade narzißtische Therapeuten halten dies dann für "bare Münze".

Um die Richtigkeit meiner Gegenübertragung zu überprüfen, konfrontiere ich u.U. den Patienten vor, während oder nach meiner Rückkopplung mit seinem von mir wahrgenommenen Empfindungsverhalten: "Sie ballten eben die Faust, was spürten Sie dabei?". Oft hört man dann die Antwort: "Habe ich gar nicht gemerkt - gespürt auch nichts dabei.". In diesem Fall hat der Patient also weder auf der Empfindungs- noch auf der Gefühlsebene Kontakt zu seinem Affekt. Die Konfrontation des Patienten mit seinem Empfindungsverhalten ist generell ein wichtiges Mittel, um den therapeutischen Prozeß "zu nähren", die Übertragung des Patienten findet eine körperlich-emotionale Anreicherung und die Gegenübertragung des Therapeuten wird genauer, inhaltsvoller und damit unterstützender für den Patienten. D.h., die Konfrontation des Patienten mit seinem Empfindungsverhalten ist ein sinnvolles Arbeitsinstrument, auch ohne nun gleich die oben beschriebene Rückkopplung im Auge zu haben.

Der Vorgang der paradoxen Kommunikation, wie P.Watzlawick [5] ihn als widersprüchliches Mitteilen auf der Beziehungs- und Inhaltsebene beschreibt, den gibt es natürlich auch, wenn die Körperlichkeit des Patienten und des Therapeuten miteinander nonverbal kommunizieren. D.h., oft wird mit verschiedenen Signalen gleichzeitig Widersprüchliches auf der Empfindungs-, Gefühls- oder Ausdrucksebene mitgeteilt, z.B.: der Patient, der mit sehr wohlgesetzten Worten und sehr leiser Stimme, die scheinbar überhaupt nicht aggressiv klingen soll, seine doch vorhandene Wut nicht kommuniziert. Typische Gegenübertragungsreaktionen bei paradox kommunizierter Körperlichkeit sind Verwirrung, Gereiztheit, Orientierungsunsicherheit oder wertende Urteile wie: Er täuscht, betrügt, führt an der Nase herum, führt mich hinters Licht, will mich hereinlegen, irreführen. [6] Mit D.Stern [7] können wir das paradoxe Stimulierung nennen. Er meinte damit v.a. die Zuwendung eines Interaktionspartners zu einem anderen bei gleichzeitigem Vermeiden eines vollen Kontaktes, eine klare Abwendung wird aber auch vermieden. Und natürlich kann der Patient den Therapeuten, aber auch der Therapeut den Patienten paradox stimulieren.

Paradox kommunizierte Körperlichkeit, also der paradoxe Umgang mit einer körperlichen Empfindung, Gefühl oder Ausdruck hat seinen Ursprung in der Charakterneurose (Umgang mit der gestörten Objektbeziehung) eines Patienten (oder Therapeuten), nicht in der Beziehungs- und / oder Übertragungsneurose (gestörte Objektbeziehung) des Patienten (oder Therapeuten).

Situativ ausgedrückte Körperlichkeit, z.B. ein Seufzen, das Ballen einer Faust etc., ist meist die Verkörperung einer aktuell übertragenen Objektbeziehung. In deutlicher Unterscheidung dazu ist paradox kommunizierte Körperlichkeit bzw. charakterneurotische Körperlichkeit eine habituelle Verkörperung, z.B.: die leise, Wut unterdrückende Stimme, der aufgeblähte Oberkörper, die flache Atmung, die ständig durchgedrückten Knie, der steife Nacken etc.

Habituelle Körperlichkeit entsteht auf Grund früher mangelnder Objektbeziehung und früher aufdringlicher Objektbeziehungen. "In dem einen Falle dient es der Objektersetzung, im andern Falle der Objektabwehr.". [8] Ausführlich und neuartig produktiv ist die mögliche und gestörte habituelle Körperlichkeit eines Menschen beschrieben im Buch von Stanley Keleman: Verkörperte Gefühle, Der anatomische Ursprung unserer Erfahrungen und Einstellungen. [9]

Wie sollte ein Therapeut mit der habituellen Körperlichkeit eines Patienten umgehen, wie sollte er sie ansprechen? Abgesehen davon, daß er sie natürlich ersteinmal wahrnehmen muß, gilt als therapeutische Grundregel, daß nur über einen aktuellen Beziehungsaspekt die habituelle Körperlichkeit ansprechbar ist. [10] In der Regel reagieren die Patienten positiv darauf, sie fühlen sich ganzheitlich gesehen, spüren Interesse und Einfühlung.

Die Körperwahrnehmung des Patienten und des Therapeuten bzw. das Einbeziehen der Körperlichkeit beider in den therapeutischen Prozeß eröffnet eine weitere Möglichkeit des Durcharbeitens im analytischen Kontext von "Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten" [11].

 
 
 
Patient   

   Therapeut
Interaktion
mit seiner erlebten Körperlichkeit:
Empfindung, Gefühl, Ausdruck

mit seiner erlebten Körperlichkeit:
Empfindung, Gefühl, Ausdruck

 
(asymmetrische) Übertragung

auf der oberen Schicht der sozial-emotionalen "Maske", der Charakter-Abwehr ("positive Übertragung") und auf der destruktiven vermischten Mittelschicht der Konfusion, Spannung, Angst und des Stresses (sozial-emotionaler "Mist") ("negative Übertragung") (vgl.: Reich, W., (1933) Charakteranalyse)
 
(asymmetrische) Gegenübertragung

auf der oberen Schicht der sozial-emotionalen "Maske", der Charakter-Abwehr ("positive Gegenübertragung") und auf der destruktiven vermischten Mittelschicht der Konfusion, Spannung, Angst und des Stresses (sozial-emotionaler "Mist") ("negative Gegenübertragung")
 
(symmetrische) Ich-Du-Beziehung

auf der primären Kernschicht, die das wahre Selbst ausdrückt und wirkliche Bezugnahme ermöglicht (vgl.: Buber, M., Ich und Du)
 
(symmetrische) Ich-Du-Beziehung

auf der primären Kernschicht, die das wahre Selbst ausdrückt und wirkliche Bezugnahme ermöglicht
 
Körperwahrnehmung, -ausdruck

von Aktuellem und / oder Habituellem
 
Körperwahrnehmung, -ausdruck

von Aktuellem und / oder Habituellem
 
Kommunikation

verbal / nonverbal mit der Möglichkeit der paradoxen Stimulierung
 
Kommunikation

verbal / nonverbal mit der Möglichkeit der paradoxen Stimulierung
 
Energie

Interferenz oder Resonanz (vgl.: Boadella, D., Übertragung, Resonanz und Störung, in: (1994) Energie & Charakter, H. 10, S. 154 ff. . Berlin: Bernhard Maul)
 
Energie

Interferenz oder Resonanz

 
 
ANMERKUNGEN
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[*]
Vortrag auf den 1. Choriner Tagen der Sektion Dynamische Einzelpsychotherapie der Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie e.V. vom 1.12. - 3.12.95
[1]
In Anspielung auf Tilmann Moser's: "Was sollte die Körpertherapie von der Psychoanalyse lernen?" (vgl.: Körperpsychotherapie zwischen Lust- und Realitätsprinzip, Verein für Integrative Biodynamik (Hrsg.), Transform Verlag, Oldenburg 1994)
[2]
vgl.: Jäkel, F., Verwandt und verschwägert: Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie und Psychodynamische Einzelpsychotherapie, in: (1993) Psychologische Beiträge, Bd. 35, H. 4, S. 372 . Lengerich: Pabst Science Publishers
[3]
vgl.: Mertens, W., (1990) Einführung in die psychoanalytische Therapie, Bd. 2, S. 165 . Stuttgart: W. Kohlhammer
[4]
vgl.: Herdieckerhoff, G., Körpersprache in der psychoanalytischen Behandlungssituation, in: (1985) Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychoanalyse, H. 2, S. 132 . Göttingen: Verlag Vandenhoeck & Ruprecht
[5]
vgl.: Watzlawick, P., Beavin, J.H., Jackson, D.D., (1969) Menschliche Kommunikation . Bern: Huber
[6]
vgl.: Herdieckerhoff, S. 137
[7]
vgl.: Stern, D., (1979) Mutter und Kind . Stuttgart:
[8]
vgl.: Herdieckerhoff, G., Therapeutischer Umgang mit habitueller Körpersprache, in: (1986) Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychoanalyse, H. 2, S. 193 . Göttingen: Verlag Vandenhoeck & Ruprecht
[9]
vgl.: Keleman, St., (1992) Verkörperte Gefühle . München: Kösel-Verlag
[10]
vgl.: Herdieckerhoff, (1985) S. 148
[11]
vgl.: Freud, S., (1914) Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten, in: G.W. X, S. 126 ff.
 
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