Praxis für Psychotherapie Dr. Phil. Arnim Krüger




Energie oder Beziehung [*]

Ursprünglich hatten Axel Böhmer und ich uns auf einen längeren Titel meines Vortrages geeinigt. Aber offensichtlich erfüllen bereits diese beiden unredundanten Wörter ihre Signalwirkung. Jeder Bioenergetiker, jeder Körperpsychotherapeut weiß scheinbar sofort, daß mit diesen beiden Begriffen eine jeweils spezifische therapeutische Haltung bzw. Herangehensweise in der Körperpsychotherapie gemeint ist. Ja, es handelt sich um psychotherapeutische Paradigmen.

Das "Oder" impliziert auch zwei widerstreitende Lager, um nicht zu sagen "zwei gegnerische Lager": die "Energetiker" auf der einen und die "Tiefenfummler" [1] auf der anderen Seite. Auf alle Fälle haben wir es mit einem "Minenfeld" zu tun, wie Ulrich Sollmann [2] es formuliert hat, wenn es um Körperpsychotherapie zwischen Energie- und Beziehungsarbeit geht. Einige Kolleginnen und Kollegen sollen angeblich bei diesem Thema "das Klappmesser der kollegialen Rivalität in der Hosentasche" bereithalten.

Mein persönlicher Werdegang als Körperpsychotherapeut hat mich 'mal in das eine und 'mal in das andere Lager verschlagen. Mitte der 80er Jahre begann meine Begegnung mit der Körperpsychotherapie. Für uns aus der ehemaligen DDR war Körpertherapie eine fast magisch besetzte Art des Therapierens. Endlich gab es eine Über-Ich-Erlaubnis zu schreien, zu heulen, zu schlagen, sprich, uns kathartisch abzureagieren und auszuagieren. Entsprechend idealisierten wir unsere Workshop-Leiter wie Eva Reich, David Boadella, Volker Knapp-Diederichs u.a. Diese kamen damals über die Grenze und leisteten "für 'n Appel und 'n Ei" Pionierarbeit im Osten.

Gruppendynamisch, also beziehungsorientiert gesehen liefen diese Workshop-Gruppen chaotisch. "Abstinenz" zwischen Leitern und Teilnehmern war ein Fremdwort, das ging bis in den sexuellen Bereich. Aus der Möglichkeit des kathartischen Ausdrucks wurde eine Gruppennorm. Möchtegerngurus begannen sich zu entwickeln, die man aus heutiger Sicht nur unter psychiatrischen Kategorien sehen kann. Es wurde körpertherapeutisch experimentiert und agiert, "was das Zeug hielt". Wenn jemand z.B. nach einem Re-Birthing in eine 7wöchige Depression fiel, weil ihn der Leiter und die Gruppe nicht ausreichend genug empfangen und halten konnten, er also schlichtweg retraumatisiert wurde, dann schien das "keiner Rede wert" zu sein.

Ich ahnte damals nur die Grenzen und Gefahren dieser wilden körpertherapeutischen Workshop-Kultur und entschloß mich, sozusagen eher den Gegenpol betretend, Ausbildungen und therapeutische Selbsterfahrung in drei beziehungsorientierten Verfahren zu absolvieren. Es waren die Psychodynamische Einzeltherapie [3], die Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie [4] und die Körperorientierte Dynamische Gruppenpsychotherapie [5] - drei tiefenpsychologisch fundierte Methoden, die als quasi psychoanalytisch orientierte Methoden sich in der DDR entwickelt hatten und diese auch überlebt haben. [6]

Von 1987 bis 1991, ich war damals leitender Psychologe zuerst auf einer psychosomatischen Abteilung einer somatisch orientierten Klinik und dann in einer rein psychotherapeutischen Klinik, versuchte ich eine Synthese zwischen tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie und Körpertherapie. [7] Bei diesem Syntheseversuch merkte ich wiederum Grenzen der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie (Diese Grenzen kann ich eher erst heute genauer von meinem Standpunkt als Psychoanalytiker ausmachen.). Solche Grenzen der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie sind: [8]

  • Begrenzung der Bearbeitung des psychopathologischen Spektrums eines Patienten, Fokussierung und planerische Aktivität seitens des Therapeuten in Hinsicht auf ein zu bestimmendes "Therapieziel", Formulierung eines Fokus als psychodynamische Minimalhypothese, vorrangige Bearbeitung nur von Widerstand und Übertragung, Steuerung der Übertragung durch eine "korrektive emotionale Erfahrung".
  • Vorrangig werden im "Hier-und-Jetzt" zutage tretende Konfliktkerne angesprochen,
  • Realitätsnähe durch vis-à-vis - Position, bei eingeschränkter Regression.

Ich ahnte damals noch nicht, wie wichtig das therapeutische Arbeiten mit dem gesamten Beziehungskosmos des Patienten ist, daß es neben dem "Hier-und-Jetzt" auch ein "Dort-und-Damals" gibt. Zu wenig Erfahrung hatte ich auch mit dem wohl wichtigsten Arbeitsinstrument des analytisch orientierten Psychotherapeuten - der Gegenübertragung. Meine therapeutische Grundhaltung hatte damals noch wenig mit einem wirklichen Verstehen-wollen des Patienten zu tun. Traum- und Regressionsanalyse konnte ich nicht ausreichend handhaben. Überhaupt hatte mir die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und die Körpertherapie wenig Rüstzeug mitgegeben, was tatsächlich ein regressiver Prozeß ist. Eine kathartische Entladung hielt ich damals bereits für Regression.

Eine psychoanalytische Weiterbildung war für mich zu jener Zeit noch suspekt, ich hatte auch die landläufigen Vorurteile gegenüber der Psychoanalyse, als Körpertherapeut (!) allemal. Außerdem glaubte ich, mit meinem noch zu DDR-Zeiten erworbenen körpertherapeutischen Workshop-Wissen eine gewisse "Minderwertigkeit" als Körperpsychotherapeut aufzuweisen. Die Lösung therapeutischer Probleme zwischen Körper- bzw. Energiearbeit auf der einen und Beziehungsarbeit auf der anderen Seite sah ich so noch nicht in einer psychoanalytischen Weiterbildung, sondern in einer fundierten Körpertherapieausbildung. Ich wollte Körpertherapie "von der Pieke auf" lernen und entschloß mich für eine Ausbildung in Bioenergetischer Analyse in München, die ich 1996 abschloß. Meine Hoffnung war, mit besserem körpertherapeutischen "Handwerkzeug" vielleicht eher bei der Lösung auftretender psychotherapeutischer Probleme voranzukommen.

Ernüchterung und Entidealisierung der Bioenergetischen Analyse folgten. Heiner Jächter [9] hat in einer kleinen Befragung von Kolleginnen und Kollegen versucht, die sich mit ihm in der Ausbildung zum Bioenergetischen Analytiker befanden, die kritikwürdigen Punkte der Ausbildung zusammenzufassen und herauszufiltern. Ich kann mich seiner Einschätzung in weiten Teilen anschließen. Konsens besteht vor allem darin,

  • daß die Ausbildung keine wirkliche Auseinandersetzung mit elterlicher Autorität zuließ. Gruppen dynamisch gesehen blieben die Trainer zu unhinterfragt. Beziehungsmäßiges Arbeiten konnte so in der Ausbildung nicht bereits hinreichend erfahren und gelernt werden.
  • Die Aufhellung der Übertragungs- und Gegenübertragungsdynamik spielte sowohl in den Ausbildungsworkshops als auch in den Lehrtherapien eine nur untergeordnete Rolle.
  • Die geübte Praxis der Life-Supervision ist mehr als nur anfragbar. Mir persönlich ist kein BA-Supervisor bekannt, der die entstehende Dynamik der Triade übertragungs-, gegenübertragungsmäßig gebührend ins Blickfeld der Supervision rücken wollte oder konnte.

Dissens habe ich mit Jächter's Befragung vor allem bei der quantitativen Frage der Supervision. 50 oder 60 h Supervision sind nicht zu viel, sondern zu wenig, bezogen auf mindestens ein oder zwei zu erfassende und zu supervidierende therapeutische Prozesse. Die Erfassung eines gesamten therapeutischen Prozesses durch einen Supervisor könnte dem Ausbildungsteilnehmer und Supervisanden therapeutisches Prozeßverständnis vermitteln, das für therapeutisches Arbeiten unablässig ist.

Die Defizite der Bioenergetischen Analyse spürend entschloß ich mich zu einer psychoanalytischen Weiterbildung, die ich 1997 abschloß. In den Ausbildungsanalysen, die Patienten bei mir absolvierten, lagen diese zwar couchähnlich auf der Matte, aber ich durfte sie nicht anfassen oder sonstige körpertherapeutische Aktivitäten intendieren. Durch die auferlegte körpertherapeutische Abstinenz schärfte sich mein Blick, mein Gefühl und meine Phantasie für körpertherapeutische Interventionsmöglichkeiten um so mehr. Ich kriegte ziemlich deutlich mit, wo wir als Körpertherapeuten die Möglichkeiten der Sprache und der sprachlichen Beziehungsgestaltung nicht voll ausschöpfen und zu voreilig auf die Körperebene gehen. Und ich kriegte aber auch mit, wann die Symbolisierungsfähigkeit über Worte sich erschöpft und der Körper sich über eine Empfindung, ein Gefühl oder einen Ausdruck "zu Wort meldet", was dann allerdings in den Grenzen des Settings der klassischen Psychoanalyse nicht bearbeitbar ist.

Dieses in der psychoanalytischen Arbeit erfahrene Defizit führte mich wieder zurück zu energetischen Fragen. Mit Respekt und Neugier begann ich, mich für die Auffassung und Arbeit der "Energetiker" zu interessieren. So besuchte ich u.a. Workshops bei Heiner Steckel, bei dem ich lernen konnte, was energetisches Arbeiten am und mit dem Körper letztlich bedeutet und wie diese Arbeit zu "handhaben" ist.

Wie ist heute mein psychotherapeutisches Selbstverständnis? Ich sehe mich weder als "reiner" Psychoanalytiker noch als "reiner" Bioenergetiker. Wenn es eine Annäherung über einen Begriff gibt, dann trifft wohl "analytischer Körperpsychotherapeut" am ehesten zu. In der Fachliteratur ist das Verständnis der analytischen Körperpsychotherapie dargestellt durch solche Autoren wie: George Downing, Peter Geißler, Stephen Johnson, Hans-Joachim Maaz, Tilmann Moser, Jack Lee Rosenberg u.a. [10].

Leider hat die analytische Körperpsychotherapie ein sehr gebrochenes Verhältnis zum Energiekonzept. Downing entwickelt eine recht kritische Einstellung zu Reich's Energiemodell. [11] Auch Geißler sieht folgende Hauptkritikpunkte am Energiekonzept der Bioenergetischen Analyse:

  1. "Das Beziehungsgeschehen in der Therapie wird nicht ausreichend konzeptualisiert bzw. therapeutisch aufgegriffen.
  2. Der Therapieansatz der Bioenergetischen Analyse ist ein 'selbstbezogener' Ansatz. Die Förderung regressiver Gefühlsdurchbrüche macht noch lange nicht konflikt- und beziehungsfähig.
  3. Bioenergetik-Gruppen sind stark leiterzentriert, sie arbeiten mit einer Idealisierung des Gruppenleiters, der z. T. zum Guru hochstilisiert wird bzw. dies teils bewußt, teils unbewußt zuläßt, manches Mal sogar fördert. Die Analyse der dadurch entstehenden Machtstrukturen gehört nicht zum Repertoir des durchschnittlich ausgebildeten Bioenergetikers.
  4. Das energetische Modell der Bioenergetischen Analyse ist, trotz bestimmter psychologischer Bezugnahmen, kein tiefenpsychologisches, maximal jedoch ein ein einpersonen-psychologisches. Einpersonen-psychologische Betrachtungen haben sich aber mittlerweile als überholt erwiesen.
  5. Die konkrete und die metaphorische Bedeutung des Energiebegriffs werden verwechselt und vermischt. Hinter dem Energiebegriff versteckt sich die Beziehung, die dadurch wenig oder nicht klar thematisiert werden kann." [12]

Soweit - zum Rundumschlag Geißler's. Seine Kritikpunkte 1. bis 3. haben erstmal gar nichts mit dem Energiekonzept der Bioenergetischen Analyse zu tun, sie lassen sich auf viele andere Psychotherapiemethoden auch beziehen. Die Kritikpunkte 4. und 5. sind da schon interessanter, mit ihnen muß man sich auseinandersetzen. Solche Kritikaussagen sind in der Regel Konklusionen, also Schlußfolgerungen. Aber zu Konklusionen kommt man erst, wenn man von Prämissen, also von Voraussetzungen ausgeht. Die Prämisse nun, die zu den o.g. kritischen Konklusionen führt, ist genau jenes vetrackte Wortgebilde der Überschrift: "Energie oder Beziehung".

Stillschweigend hat sich in diesem Jahrhundert der Psychotherapie die Disjunktion "Oder" zwischen Energie und Beziehung eingeschlichen. Alle Psychotherapeuten, egal ob körpertherapeutischer oder psychoanalytischer Provenienz, scheinen das "Oder" zu akzeptieren, doch jeder meint das Seine. Was wird gemeint? Mir scheint dieses "Oder" ist als Kontravalenz, als Gegenwertigkeit gemeint. Als Kontravalenz bedeutet es: Entweder Energie oder Beziehung bzw. entweder Beziehung oder Energie. Für beide eingangs erwähnten Lager ist diese Aussage "wahr". Die "Energetiker" können sagen, das Energiekonzept ist in Wirklichkeit das wahre Konzept, und meinen (un-) ausgesprochen, daß das "Nur-" Beziehungskonzept falsch sei. Damit hat die disjunktive Prämisse "Energie oder Beziehung" für sie das Wahre. Die "Tiefenfummler" können sagen, das Beziehungskonzept ist in Wirklichkeit das wahre Konzept, und meinen ausgesprochen, daß das unwissenschaftliche Energiekonzept falsch sei. Damit hat auch für sie die Aussage "Energie oder Beziehung" das Wahre. Beide Lager können sich so im Besitz der Wahrheit wähnen und miteinander streiten, wer denn nun die Wahrheit besäße. "Und wenn sie nicht gestorben sind, dann ... " streiten sie noch immer ...

Aus heutiger Perspektive gesehen halte ich die Frage bzw. Prämisse "Energie oder Beziehung" für falsch, für un-, ja für kontraproduktiv. Psychotherapiehistorisch betrachtet war es notwendig, diese Frage zu stellen. Freud, der in seinen früheren Jahren sehr von energetischen Vorstellungen angetan war, arbeitete das Energiekonzept nur bis zum Libidobegriff aus. [13] Freud's Arbeitsschwerpunkt verlagerte sich aber dann auf das die Psychoanalyse prägende Beziehungskonzept. Vor allem Reich nahm die Arbeit des frühen Freud auf und versuchte, das Energiekonzept in den wissenschaftlichen Möglichkeiten seiner Zeit weiterzuentwickeln. Über tragische Verwicklungen, die auch mit der Beziehung Freud - Reich zu tun haben, wurde spätestens im August 1934 mit dem Vortrag von Reich "Psychischer Kontakt und vegetative Strömung", gehalten auf dem 13. Internationalen Psychoanalysekongreß in Luzern, die historische Disjunktion "Energie oder Beziehung" geboren. [14] Eine Disjunktion, an der sich im wahrsten Sinne des Wortes fortan die Geister scheiden sollten - nämlich, ob man Reichianer oder Freudianer war.

Warum ist die Disjunktion "Energie oder Beziehung" historisch überholt? In den 70er Jahren hat sich eine Forschungsrichtung der psychoanalytischen Kleinkindbeobachter entwickelt, die wir heute moderne Säuglingsforschung nennen. Erschreckte Psychoanalytiker begriffen bereits 1981, daß die moderne neonatologische Forschung zu einer "Erschütterung der Grundfesten der Psychoanalyse" führt. [15] Der lang andauernde Glaube an den autistischen, narzißtischen, inkompetenten, passiven und trieb- und bedürfnismäßig stimulierten Säugling, der nur döst, trinkt und schläft, mußte zu Grabe getragen werden. Die moderne Säuglingsforschung geht statt dessen davon aus, "daß schon der Säugling ein aktives, kompetentes, kontaktsuchendes Interaktion stimulierendes Wesen ist, dem von Geburt an die Dispositionen hierfür zur Verfügung stehen.". [16]

Manchmal erscheint es mir fast, als hätte die Körperpsychotherapie im Allgemeinen und die Bioenergetische Analyse im Besonderen die moderne Säuglingsforschung verschlafen. Mir sind nur wenige Arbeiten von Körperpsychotherapeuten bekannt, die sich mit den Konsequenzen der modernen Säuglingsforschung für die Körperpsychotherapie auseinandersetzen. Margit Koemeda-Lutz hat eine wichtige Arbeit verfaßt: "Emotionen als Beweggrund: Bausteine zu einer bioenergetischen Affekttheorie". [17] Auch Tilmann Moser hat mit einer kurzen Arbeit "Über Säuglings- und Kleinkindforschung und Körperpsychotherapie" auf die Thematik verwiesen. [18]

Aus meiner Sicht hat Daniel Stern mit seiner Annahme der RIG's (Representations of Interactions that have been Generalized) den Weg für ein neues Verständnis von Gefühlsprozessen geebnet. [19] Säuglinge sind in der Lage, Konsistenzen (also wie etwas oder jemand beschaffen ist) und Invarianzen (also ob etwas oder jemand das- oder derselbe bleibt, trotz bestimmter Änderungen in der Form) zu erkennen und aus ihren Wahrnehmungen prototypische Repräsentationen zu abstrahieren. Ein Säugling erkennt z.B. sowohl seine Mutter, wenn sie mit Lockenwicklern und Kittelschürze hektisch in der Küche hantiert, als auch, wenn sie strahlend mit Hut und im Sonntagnachmittag-Ausgehkostüm sich der Welt zeigt. Die RIG's beinhalten Gefühlsqualitäten, Wahrnehmungsaspekte (taktile, kinästhetische, visuelle etc.) und Bewegungsabläufe (bestimmte wiederkehrende Innervationsmuster der Skelettmuskulatur). Und hier liegt eine erste Erkenntnis der modernen Säuglingsforschung - die RIG's sind körperlich gebunden. Werden RIG's destabilisiert oder gar traumatisiert bzw. können nicht zur gesunden Ausbildung kommen, zeitigt das pathologische Wirkung auf körperlicher Ebene, oder, um es mit Stern psychologisch auszudrücken, das "Kern-Selbst" wird beschädigt. [20] Gleichzeitig findet sich hier die Erklärung, daß im ontogenetischen Sinne das Selbst vor allem ein Körperselbst ist. [21]

Zur Illustration einer pathologischen RIG-Bildung zitiere ich aus einer Beschreibung einer gefilmten Mutter-Kind-Interaktion von einer nicht "ausreichend guten" Mutter, die ihr sechs Wochen altes Baby füttert: [22]

"Die ... Mutter ... brauchte drei Stunden, um ihr Kind zu füttern. Sie erklärte dem Interviewer, daß jedes Füttern etwa drei Stunden dauere und daß es eine ziemliche Last für sie sei. Mit ihrem sechs Wochen alten Kind bedeutete dies mindestens 15 Stunden Füttern pro Tag. Im Film sah das Kind sehr hungrig aus. Es wollte die Flasche haben. In diesem Filmabschnitt erlaubte die Mutter ihrem Kind genau 80 Sekunden zu saugen, niemals mehr als drei zusammenhängende Sekunden. Während der gleichen Periode rüttelte sie es 3000 mal. Obwohl sie ihr bestes tat, konnte diese Mutter einfach nicht länger als nur einige Sekunden stillhalten. Sie bot ihrem Kind den Nippel (Flaschennuckel, A.K.) an und dieses nahm ihn mit Enthusiasmus - allerdings nur, um ihn eine oder zwei Sekunden später durch eine Bewegung, die der Mutter nicht bewußt zu sein schien, wieder zu verlieren. Das Kind spannte nun seinen Körper an und schrie. Daraufhin versuchte die Mutter sofort, es auf die unterschiedlichsten Arten zu schütteln. Sie tätschelte planlos seinen Rücken und wippte es hoch und nieder, während sie es verwirrt anschaute. Es schien, als wollte sie es dazu bringen, mit dem Schreien aufzuhören, bevor es die Flasche wiederbekommen sollte, offensichtlich völlig uneinsichtig gegenüber der Tatsache, daß es schrie, weil es hungrig war (Hervorhebung, A.K.). Nach mehreren Momenten dieses angespannten Wippens und Tätschelns verspannten sich Kopf, Nacken und Arme des Kindes in einer Schreckposition, und seine Augen spiegelten einen Schock wider. An diesem Punkte atmete es nicht mehr und schrie nicht mehr. Da es nun ruhig war, legte es seine Mutter zurück und bot ihm die Flasche an. Nach ein paar Sekunden wiederholte sich die Sequenz.". [23]

Die meisten erwachsenen Zuschauer dieser gefilmten Interaktionen verspürten Schmerzen im Bauch, bis hin zu Übelkeit und Schwindel. Stellt man sich diesen gefilmten Säugling als späteren Psychotherapiepatienten vor, so ist zu vermuten, daß diese körperlichen Gegenübertragungen auch in der Therapie auftauchen würden.

Martin Dornes nimmt das Konzept der RIG's auf und bezeichnet die körperliche Wirkungsform der RIG's als sensorischen Affekt.

Der sensorische Affekt "ist sprachlos, archaisch und operiert unterhalb der symbolischen Ebene.". Er "wird von präverbalen und präsymbolischen Erfahrungen gespeist, die der symbolischen Umschrift entgangen sind. Sie drängen zu Wiederholungshandlungen, weil sie anders nicht erinnert werden können ... Der unbewältigte sensorische Affekt, nicht der Todestrieb, ist die biologische Wurzel des Wiederholungszwanges.". [24]

Hier liegt eine zweite entscheidende Erkenntnis der modernen Säuglingsforschung - der bewältigte oder unbewältigte sensorische Affekt ist nicht sprachlich gebunden, er ist der Symbolisierung entzogen. Weil - hier liegt eine dritte entscheidende Erkenntnis der modernen Säuglingsforschung - die Symbolisierungsfähigkeit im psychopathologischen Sinne erst ca. nach 1 1/2 Lebensjahren einsetzt. "Symbolisierungsfähigkeit im psychopathologischen Sinne" meint, erst nach 1 1/2 Jahren ist das Kind fähig, kompensatorische Phantasien zu entwickeln, die die frustrierende Realität umformen, um sich so entsprechend "einzurichten", z.B. destruktiv, fragmentiert, paranoid, depressiv oder, oder ...

Bisher nahm die Psychoanalyse solche kompensatorische Phantasien auch vor dem 1 1/2. Lebensjahr an und glaubte, sie über die Sprache, also narrativ bearbeiten zu können. Jetzt wissen wir, die Sprache versagt dort, weil es da "nur" sensorische Affekte gibt, die der Sprache nicht zugänglich sind. Will man den unbewältigten sensorischen Affekt durcharbeiten, dann ist die Stringenz körpertherapeutischen Arbeitens mehr als gegeben, sie ist unbedingt erforderlich.

Im Vorhandensein sensorischer Affekte, die körperlich-energetisch gebunden und über Beziehung entstanden sind, löst sich das scheinbare Problem von "Energie oder Beziehung". Im sensorischen Affekt verkörpert sich die Gleichzeitigkeit von Energie und Beziehung. [25] Wir können auch von einer Dualität von Energie und Beziehung sprechen.

Sind damit alle Probleme der disjunktiven Fragestellung "Energie oder Beziehung" geklärt? Nein - die Ergebnisse der modernen Säuglingsforschung implizieren sowohl für die Psychoanalyse als auch für die Körperpsychotherapie die Gretchenfrage, wann ist es sinnvoll und notwendig, körperlich-energetisch zu arbeiten, und wann "reicht" es und ist es sinnvoll, narrativ zu arbeiten. Die disjunktive Fragestellung "Energie oder Beziehung" wandelt sich also zu der konjunktiven Fragestellung "Körper und Wort" in der Psychotherapie.

Mit dieser Fragestellung kommen wir, klinisch gesehen, in den Bereich der Indikation für körperlich-energetisches und / oder narratives Arbeiten. Stark vergröbert kann man sagen, narratives Arbeiten hat dort überall einen Sinn, wo das psychopathologische Spektrum eines Patienten über kompensatorische Phantasien bewegt wird und es nur bedingt mit sensorischen Affekten verknüpft ist. Das können Neurosen ödipaler Provenienz, aber auch narzißtische Störungen sein, für die die Existenz von Sprache notwendig ist - z.B. muß für ein falsches Selbstbild eine sprachliche Benennung vorhanden sein.

Die Psychoanalyse mit ihren verschiedenen Ausrichtungen wie der Ich-Psychologie, den Objektbeziehungs-Theorien, der Selbstpsychologie, der Triebtheorie etc. sind in der narrativen Behandlungstechnik am weitesten fortgeschritten. Der Körperpsychotherapeut, der im Sinne der konjunktiven Fragestellung "Körper und Wort" auch dem Wort in der Psychotherapie entsprechendes Gewicht zumißt, sollte m.E. vor allem von der Psychoanalyse lernen. Die Analyse von Übertragung, Gegenübertragung, Widerstand, Regression und Traum gibt die Grundlegung für die Arbeit mit dem Wort.

Wann ist zwingend körperlich-energetisch zu arbeiten? Auch hier wieder - eine grobe Annäherung. Sensorische Affekte hören nach 1 1/2 Jahren nicht auf zu existieren. Sie bestehen über das 1 1/2. Lebensjahr fort und wirken parallel [26] und / oder verschränkt (i.S. auch von "oszillierend") zu Symbolisierungen bzw. zur Symbolisierungsfähigkeit. Es kommen auch immer wieder sensorische Affekte nach dem 1 1/2. Lebensjahr in Form von "prozeduralem Wissen" [27] dazu (z.B. automatisierte Handlungsabläufe wie nach dem Erlernen von z.B. Fahrrad- oder Autofahren). Diese Parrallelität und / oder Verschränkung nutzend ist es dann sinnvoll, körperlich-energetisch zu arbeiten, wenn der Patient oder der Therapeut mit der Sprache am Körper, am unbewältigten sensorischen Affekt des Patienten angedockt hat. Als Körpertherapeuten kennen wir solche Situationen des narrativen Andockens am unbewältigten sensorischen Affekt, der Patient sagt z.B.: "Wenn ich über meine Angst spreche, dann merke ich einen Druck auf der Brust.". Mit diesem "Druck auf der Brust" könnten wir dann körperlich-energetisch weiterarbeiten. Dazu aber ein ausführlicheres Beispiel, das das narrative Annähern an den unbewältigten sensorischen Affekt noch anschaulicher macht.

"Ein neunzehnjähriger junger Mann hatte drei Monate zuvor einen psychotischen Zusammenbruch erlitten; seine Freundin hatte ihn verlassen, und dies war letztlich der Auslöser gewesen. Er sah selbst, daß die Trennung das Schlüsselereignis darstellte. Er konnte über seine Enttäuschung und sein Verlustgefühl sprechen, aber nur auf einer recht intellektuellen Ebene. Obwohl er um den Verlust seiner Freundin ganz offensichtlich nach wie vor trauerte, hatte er noch nie geweint oder den Schmerz und die Freuden der Beziehung zu ihr noch einmal durchlebt. Er zeigte in bezug auf das Ereignis keinerlei Gefühle. Er sprach sogar über den letzten Abend, an dem er sie gesehen hatte, bevor sie ihm schließlich in einem Brief mitteilte, daß es aus sei. Sie schmusten auf dem Rücksitz eines Autos, und das Mädchen saß auf seinem Schoß. Man (der Therapeut, A.K.) stellte ihm viele Fragen, um seine Gefühle für sie hervorzulocken: 'Was ist am letzten Abend passiert?', 'Haben Sie mit ihr geschlafen oder nur geredet?' (allgemeine Fragen); 'Haben Sie eine Veränderung an ihr bemerkt?', 'War sie beim Küssen bei der Sache?' (Fragen zum intersubjektiven Bereich); 'Welches Gefühl hatten Sie, als Sie sie küßten?' (eine Frage zum Bereich der Kern-Bezogenheit). Alle diese Fragen konnten seinen Affekt nicht freisetzen, die nächste jedoch zielte noch tiefer in sein Empfinden eines Kern-Selbst: 'Wie war das für Sie, ihr ganzes Gewicht auf Ihrem Schoß zu fühlen?'. Diese Frage rief ihm den Affekt zurück, und er weinte zum ersten Mal seit drei Monaten.". [28]

Das narrative Andocken am unbewältigten sensorischen Affekt bzw. am "beschädigten" Kern-Selbst wird hier deutlich sichtbar. Für Stern ist mit dem Hervorbringen des Affektes in diesem Fallbeispiel quasi erfolgreich therapeutisch gearbeitet worden. Das narrativ erzielte Ergebnis hält er bereits für das therapeutisch erreichbare Ergebnis (Hier wird sichtbar, daß Stern kein Körperpsychotherapeut ist.). Aus körpertherapeutischer Sicht würde aber mit dem Auslösen dieses Affektes erst die körperlich-energetische Arbeit ermöglicht bzw. beginnen können. Das Spüren des Gewichtes der Freundin im Schoß des jungen Mannes hat offensichtlich bei ihm einen alten Schmerz ausgelöst, der körperlich gebunden ist. Es ließe sich z.B. phantasieren, daß es sich um eine Form der Beckenangst (das zurückgezogene, zurückgehaltene, zurückgekippte Becken) handelt, jene Form der Angst, die das Verbot, genital zu sein, beinhaltet (auch i.S. früherer Formen der Sexualität: anal, urethral). Auch ließe sich phantasieren, daß das Becken und Gesäß eine Art körperlicher Kompensationsraum ist, weil in anderen körperlichen Regionen (z.B. im Brustkorb) das Empfinden und Erleben von Gefühlen noch bedrohlicher ist als im Becken. So kann z.B. die Gesäßmuskulatur kontrahieren, um die Weichheit und Verletzlichkeit der Vorderseite des Oberkörpers nicht spüren zu müssen. Der unbewältigte sensorische Affekt muß körperlich-energetisch durchgearbeitet werden. In der Regel kann dies durch eine Freisetzung der Energieblockade entlang der vertikalen Körperachse erfolgen (Dies erfordert auch technisches Wissen über körpertherapeutische Arbeit; "Händchenhalten" genügt da nicht.). Der hier beschriebene Weg ginge also von der Sprache zum Körper und nicht, wie es in der Körpertherapie-Workshopkultur häufig praktiziert wird, vom Körper zur Sprache, indem bioenergetische Übungen angeboten werden, die dann vom Teilnehmer sprachlich reflektiert werden sollen.

Psychoanalytisch ausgedrückt docken wir am unreflektierten Unbewußten (auch genannt: prozedurales Unbewußtes, prozedurales Wissen) an, das körperlich gebunden ist. Das unreflektierte Unbewußte hatte in der Geschichte des Patienten keine Resonanz [29], deshalb blieb es unbewußt. Die sprachliche Resonanz zwischen Therapeut und Patient kommt in der Therapie beim unreflektierten Unbewußten an ihre Grenze. Zur Bewußtwerdung des unreflektierten Unbewußten bedarf der Patient zwingend der körperlichen Resonanz zwischen Therapeut und Patient. Die körperliche Resonanz bewegt sich im Bereich der körperlichen Übertragung und Gegenübertragung. Voraussetzung wiederum für die Arbeit mit körperlicher Übertragung und Gegenübertragung ist die Körperwahrnehmung des Patienten und des Therapeuten und wie sie sich beide gegenseitig in ihrer Körperlichkeit wahrnehmen. [30]

Letztlich hat die körperlich-energetische Arbeit natürlich bei den sogenannten frühen Störungen ihren tiefen Sinn. Die frühe Störung besteht, bildlich gesprochen, aus einem "Pool" unbewältigter sensorischer Affekte. Aber gerade auch bei der Arbeit mit der frühen Störung muß m.E. die Annäherung an sie über die Sprache erfolgen. Frühgestörte bedürfen des narrativen Verstandenwerdens und der narrativen Sicherheit, bevor die Reifung ihres beschädigten Kern-Selbst auf der körperlich-energetischen Ebene erfolgen kann.

* * *

Anmerkungen zu "Techniken" in der analytischen Körperpsychotherapie

Der Begriff "Technik" ist verführerisch, verkürzend und irreführend zugleich. Verführerisch, weil man glaubt, über die Beherrschung von Techniken zu nutzbarem "Handwerkszeug" zu kommen (Einen Hammer sein Eigen nennen, heißt noch nicht, Nägel in die Wand schlagen, geschweige denn, Nägel mit Köpfen machen können.). Verkürzend, weil als Techniken meist nur die einschlägig bekannten körpertherapeutischen bzw. bioenergetischen "Übungen" angesehen werden. Irreführend, weil die Anwendung von Techniken in der Regel dem dynamischen Gefühls- und Beziehungsprozeß des (der) Patienten entgegenlaufen bzw. dem nicht entsprechen. Methodisch scheint immer klarer zu werden, daß therapeutisch der Weg nicht vom Körper zum Wort (z.B.: das Machen von irgendwelchen körperlichen Übungen, die dann sprachlich vom Patienten reflektiert werden sollen), sondern vom Wort (von der Beziehung) zum Körper führt. Es ist m.E. dann sinnvoll, körperlich-energetisch zu arbeiten, wenn der Patient oder der Therapeut mit der Sprache am Körper, am unbewältigten sensorischen Affekt des Patienten angedockt hat. Diesem Andocken muß das narrative Annähern an den unbewältigten sensorischen Affekt innerhalb (und außerhalb) des therapeutischen Settings und Prozesses vorausgehen.

Und an diesem Punkt ergibt sich dann auch die Notwendigkeit der Anwendung von Technik. Der unbewältigte sensorische Affekt muß körperlich-energetisch durchgearbeitet werden. In der Regel kann dies durch eine Freisetzung der Energieblockaden entlang der vertikalen Körperachse erfolgen. Das erfordert auch technisches Wissen über körpertherapeutische Arbeit! "Händchenhalten" genügt da nicht. Es erscheint mir fachlich und begrifflich richtiger, nicht von Techniken, sondern dann von körperanalytischen Interventionsstrategien zu sprechen:

1. Körperwahrnehmungsstrategien: Die Körperwahrnehmung des Patienten und des Therapeuten und wie sie sich beide gegenseitig in ihrer Körperlichkeit wahrnehmen sind Voraussetzungen für die Arbeit mit der körperlichen Übertragungs- und Gegenübertragungsdynamik. Interferente und resonante Potentiale zwischen Patient und Therapeut sind da wahrzunehmen (auf den 3 Ebenen: Empfindung <--> Gefühl <--> Ausdruck). Die Techniken reichen vom "normalen" Sehen und Beobachten (der nonverbalen Kommunikation) über explorierende Berührungen ( des Pat. bei sich selbst, u.U. auch gegenseitig - Th.-Pat.) bis hin zur Aktiven Imagination (vgl. Jung, Johnson --> Übergang zum multimodalen Arbeiten). Wichtig scheint hier das Primat des Empfindens und Fühlens gegenüber dem Verstehen.

2. Awareness-Strategien (zu dt.: Gewahrwerdungsstrategien), primär hinsichtlich der unbewältigten sensorischen Affekte: Entwicklung des Verständnisses für Körpersprache i.S. körperlicher Assoziationen --> als symbolischer Körperausdruck, als unbewußte Bedeutungen von Körperzonen, Körperfunktionen und körperlichen Interaktionen (z.B.: "Es schnürt mir die Kehle zu ... ".). Unterscheiden lernen von situativ ausgedrückter Körperlichkeit - z.B. das Ballen der Faust - (als übertragungsneurotisch gestörte Objektbeziehung) und habituell ausgedrückter Körperlichkeit - die leise, wutunterdrückende Stimme - (als charakterneurotisch gestörte Objektbeziehung). Wieder: Primat des Empfindens und Fühlens gegenüber dem Verstehen.

3. Amplifikationsstrategien (vgl. Jung, Mindell): Körperliche und nonverbale Impulse werden "auf-gegriffen" und verstärkt. Psychodramatische und gestalttherapeutische Inszenierungen i.S.v. leibdramatischen Inszenierungen (z.B. unter Nutzung des Therapeuten oder von Gruppenmitgliedern oder von Gegenständen - Übergangsobjekten - durch den Patienten) haben hier ebenso ihren Platz (--> Übergang zum multimodalen Arbeiten). Hier: Primat des Fühlens und Ausdrückens gegenüber dem Verstehen.

4. Containment-Strategien: Das sind alle strukturbildenden Halte- und Berührungsangebote seitens des Therapeuten oder durch Gruppenmitglieder (halten, betten, stützen etc.), die dem Pat. in seinem emotionalen Prozeß die Erfahrung einer körperlich und sprachlich containenden Objektbeziehung ermöglichen und damit den Reifungsweg für die Entwicklung von Selbst-Containment eröffnen. Hier geht es m.E. auch um die körperliche Dimension von Selbstobjektbedürfnissen. Der Pat. ist u.a. genuin dessen bedürftig, seine Körperlichkeit durch den Therapeuten containend gespiegelt zu bekommen. Auch umgekehrt ist der Kontakt des Pat. mit dem "Therapeutenkörper" als Mutter- und / oder Vaterkörper von lebens- und entwicklungsspendender Wichtigkeit. Hier: Primat der Gleichzeitigkeit von Energie (Empfindung, Gefühl) und Beziehung (Verstehen).

5. Bioenergetische Strategien: Alle körpertherapeutische Arbeit (Arbeiten am und mit dem Körper), die sich energetisch auf den Vierschritt "Spannung --> Ladung --> Entladung --> Entspannung" (vgl. W. Reich) bezieht, ist bioenergetische Intervention. Sie reicht von der "sanften" (vgl. E. Reich) bis zur "harten" Bioenergetik (vgl. Lowen). Der neueren Bioenergetik geht es nicht mehr nur um das kathartische Ausleben / Ausdrücken von Gefühlen (der Stauungsneurose, vgl. W. Reich), sondern auch um das Beleben über Empfinden und Fühlen (Förderung des Emotionsflusses). Das segmentale Durcharbeiten muß bioenergetisch meist entlang der vertikalen Körperachse erfolgen und erfaßt die 3 Ebenen Haut, Muskulatur und Skelett. Hier: Primat der Gleichzeitigkeit von Energie (Empfindung, Gefühl) und Beziehung (Ausdruck, Verstehen).

Diese Strategien sind vor allem in ihrem heuristischen Wert zu verstehen. D.h., sie sind "Findungsstrategien", die dem therapeutischen Beziehungs- und Selbstreifungsprozeß des Patienten dienen. Sie können nicht therapeutische Tätigkeitsvollzüge i.S. feststehender "Algorithmen" sein, sondern sind Orientierungen des Therapeuten und des Patienten zum Einfühlen, Verstehen und Kreieren von prozeßbezogener "Körperarbeit". Deshalb muß ein analytischer Körperpsychotherapeut neben seinen Arbeitsmöglichkeiten auf der Beziehungs- und narrativen Ebene eine Vielzahl von Untersetzungen dieser körperanalytischen Interventionsstrategien ("Techniken") in seinem Wissens- und Erfahrungsreservoir frei verfügbar haben. Auch hier die scheinbar paradoxe Notwendigkeit: Um eben nicht die analytische Körperpsychotherapie zur "Technik" mutieren zu lassen, muß der analytische Körperpsychotherapeut eine Vielzahl (auch i.S. von Überzahl, aus der er variabel auswählen kann) von "Techniken" (oder besser: von Untersetzungen körperanalytischer Interventionstrategien) parat haben.


 
 
ANMERKUNGEN
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[*]
Vortrag, gehalten auf dem 3. Studientag des Norddeutschen Instituts für Bioenergetische Analyse e. V. am 7.3.98 in Bispingen
[1]
Diese "freundlich"-abwertende Bezeichnung hörte ich 'mal von einem Bioenergetiker über einen anderen mir bekannten bioenergetischen Kollegen, der sich eher um beziehungsorientiertes Arbeiten bemüht.
[2]
vgl.: Sollmann, U., Im narzißtischen Minenfeld - Körpertherapie zwischen Beziehung und Körperarbeit, in: Forum der Bioenergetischen Analyse 1/95, S. 53 ff. . Erftstadt: Günter Schubert
[3]
vgl.: Maaz, H.-J., (Hrsg.), (1997) Psychodynamische Einzeltherapie. Lengerich: Pabst Science Publishers
[4]
vgl.: Froese, M., u. Seidler, Ch., (1993) Das Unbewußte in der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie, in: Psychologische Beiträge 4/93, S. 350 ff. . Lengerich: Wolfgang Pabst
[5]
vgl.: Maaz, H.-J., (1990) Zum Konzept der körperorientierten dynamischen Gruppenpsychotherapie, in: Wiss. Zeitschrift d. HUB, Reihe Med., H. 1 . Berlin
[6]
vgl.: Maaz, H.-J. u.a. (Hrsg.), (1997) Analytische Psychotherapie im multimodalen Ansatz. Zur Entwicklung der Psychoanalyse in Ostdeutschland. Lengerich: Pabst Science Publishers
[7]
vgl.: Krüger, A., (1993) Psychosomatischer Konflikt und integrative Gruppenpsychotherapie bei psychosomatischen Erkrankungen (speziell bei Asthma bronchiale), in: F. Baumgärtel u.a. (Hrsg.), Klinische Psychologie im Spiegel der Praxis, S. 85 ff. . Bonn: Dt. Psychologen Verlag
vgl.: Krüger, A., (1994) Identität im Spannungsfeld von "Höher, weiter, schneller" und dem Lebenkönnen von Angst, Lust und Wut - Psychotherapeutische Aspekte, in: Energie & Charakter, Bd. 9, S. 27 ff. . Berlin: Bernhard Maul

[8]
vgl.: Grunert, M., (1997) Die psychodynamische Einzeltherapie: ein analytisches Kurztherapieverfahren?, in: H.-J. Maaz (Hrsg.), (1997) ... , S. 76 ff.
[9]
vgl.: Jächter, H., Befragung einer Teilnehmergruppe zu Inhalt und Organisation der Fortbildung zum Bioenergetischen Analytiker, in: Forum der Bioenergetischen Analyse 1/96, S. 22 ff. . Erftstadt: Günter Schubert
[10]
vgl.: Downing, G., (1996) Körper und Wort in der Psychotherapie. München: Kösel
vgl.: Geißler, P., (1997) Analytische Körperpsychotherapie. Wien: Facultas Universitätsverlag
vgl.: Johnson, S., (1994) Character styles. New York: W. W. Norton
vgl.: Maaz, H.-J., (1990) ...
vgl.: Moser, T., (1989) Körpertherapeutische Phantasien. Frankfurt a. M.: Suhrkamp
vgl.: Rosenberg, J. L., (1996) Körper, Selbst & Seele. Paderborn: Junfermann

[11]
vgl.: Downing, G., (1996) ... , S. 366 ff.
[12]
Geißler, P., (1997) ... , S. 25 f.
[13]
1933 erklärt Freud gegenüber dem amerikanischen Psychiater Joseph Wortis: "Die Analyse ist nicht alles. Es gibt andere Faktoren, die dynamischen Faktoren, die wir Libido nennen - die Triebkraft hinter jeder Neurose. Die Psychoanalyse kann auf sie keinen Einfluß nehmen, weil sie eine organische Grundlage hat ... Wir können damit rechnen, daß der organische Teil in Zukunft einmal aufgedeckt werden wird. Solange die organischen Faktoren unzugänglich bleiben, läßt die Psychoanalyse noch viel zu wünschen übrig.", Puner, H., (1947) Freud. His Life and Mind. New York: ... ; übersetzt von: R. Mahr, Zum Konzept der Orgonenergie von Wilhelm Reich, in: Forum der Bioenergetischen Analyse 1/97, S. 69 . Erftstadt: Günter Schubert
[14]
vgl.: Reich, W., (1989) Charakteranalyse, S. 389 ff. . Köln: Kiepenheuer & Witsch
[15]
vgl.: Emde, R. N., (1981) Changing models of infancy and the nature of early development: Remodeling the foundation. J. Am. Psa. Ass. 29: 179 - 219
[16]
Mertens, W., (1990) Einführung in die psychoanalytische Therapie, Bd. 1, S. 112 . Stuttgart: Kohlhammer
[17]
vgl.: Koemeda-Lutz, M., in: T. P. Ehrensperger (Hrsg.), (1996) Zwischen Himmel und Erde, S. 143 ff. . Basel: Schwabe & Co.
[18]
vgl.: Moser, T., in: (1996) Der Erlöser der Mutter auf dem Weg zu sich selbst, S. 129 ff. . Frankfurt a. M.: Suhrkamp Taschenbuch
[19]
vgl.: Stern, D. N., (1996) Die Lebenserfahrung des Säuglings, S. 143 ff. . Stuttgart: Klett-Cotta
[20]
vgl.: Stern, D. N., (1996) ... , S. 145
[21]
vgl.: Krüger, A., (1997) Essentials der analytischen Körperpsychotherapie - Zur Methode und Technik - , in: H.-J. Maaz u.a. (Hrsg.), (1997) ... , S. 86 f.
[22]
vgl.: Brody, S., & Axelrod, S., (1962) Anxiety and Ego Formation, in: Early Infancy (Film)
[23]
zit. nach: Lewis, R., (1994) Cephaler Schock - verstanden als Verlust des Gleichgewichts, in: D. Hoffmann- Axthelm (Hrsg.), Schock und Berührung, S. 30 . Oldenburg: Transform
[24]
Dornes, M., (1995) Der kompetente Säugling, S. 192 . Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch
[25]
vgl.: Krüger, A., (1997) ... , S. 85 f.
[26]
Die "Parallelitätshypothese" wird von Dornes (1995, S. 179) bezüglich des Primär- und Sekundärprozeßhaften eingeführt. M.E. gilt sie auch für das Verhältnis von sensorischem Affekt und Symbolisierung (-sfähigkeit).
[27]
vgl.: Dornes, M., (1997) Die frühe Kindheit, S. 290 ff. . Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch
[28]
Stern, D. N., (1996) ... , S. 365 f.
[29]
vgl.: Boadella, D., (1994) Übertragung, Resonanz und Störung, in: Energie & Charakter, H. 10, S. 154 ff. . Berlin: Bernhard Maul
[30]
vgl.: Krüger, A., (1997) Körperwahrnehmung in der psychodynamischen Einzeltherapie, in: H.-J. Maaz (Hrsg.), (1997) ... , S. 91 ff.
 
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